Äußere Krisen prägen die Zeit und generieren innere Konflikte. Umgekehrt führen innere Konflikte auch im Außen zu Störungen, zu Streit und Spaltung. Wenn sie ungelöst bleiben, zu Missachtung und Gewalt, gegen sich selbst oder andere. Ein Plädoyer für Persönlichkeitsbildung in existenzieller und politischer Perspektive von Dr. Karin Hutflötz.
Krieg und Krisen – sei es in Form der Energie-, Klima-, Gesundheits- oder Bildungskrise – prägen die Wahrnehmung der Zeit und das Gefühl von geschichtlichem Umbruch. Man spricht von „Zeitenwende“ in der Politik seit Beginn des Krieges in der Ukraine, von einem „Nullpunkt“ in Bezug auf die Kirchenkrise und von der „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“, so der Soziologie Stephan Lessenich in seinem aktuellen Buch „Nicht mehr normal“.
Der drohende Verlust von sozialem Halt und politischer Sicherheit, von Wohlstand und selbstverständlichen gewordenen Privilegien, setzt vielen Menschen auch auf persönlicher Ebene zu. Nicht mehr jederzeit heizen zu können, sich von einem Ausnahmezustand zum andern hangeln zu müssen, von der Pandemie zur Energiekrise – und wie weiter? Das kostet Vertrauen und Zuversicht.
Und wirft existenzielle Fragen neu auf: Was zählt letztlich – und wem wieviel? Was trägt und hält, wenn wenig mehr hält und trägt? Was gibt Sinn und Orientierung in umbrüchiger Zeit?
Sich selbst und anderen solche Fragen radikal neu zu stellen: im persönlichen Bezug (was ist meine eigene Sicht?) und in ethischer Gemeinwohl-Perspektive (was zählt uns gemeinsam?), kann Aufbruch bedeuten im doppelten Sinn des Wortes: Nicht nur ein Aufbrechen von festem Boden und veralteter Strukturen, sondern auch ein Aufbruch im Sinn von Neubeginn und Anfang: eingedenk der Reise, die das Leben ist, der Grundform des Unterwegs, in die wir – trotz allem Festhalten und Sichern wollen von einmal Erreichtem – immer gestellt sind: „Denn Bleiben ist nirgends!“ (Rilke, 1. Duineser Elegie)
Sich grundsätzlichen Fragen im inneren und äußeren Dialog ernsthaft zu stellen, ist Kern einer Persönlichkeitsbildung, die von dem sozialen und politischen Kontext der Person und ihrer Situation nicht absieht, sondern diese ausdrücklich und in offenen Fragen mit einbezieht. Das bedeutet, sich einem Konflikt nicht nur als einzelne Person im „inneren Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon) zu stellen oder ‚an sich zu arbeiten‘ zur Aneignung von noch besseren Bewältigungsstrategien, z.B. in Trainings zum Zweck gesteigerter Achtsamkeit und Resilienz.
Kein Wort verspricht heute so viel Selbstwirksamkeit und Selbstschutz im Umgang mit Konflikt und Krisen wie Resilienz. Geblendet vom Münchhausen-Glanz dieses Versprechens bleibt gerade außer Acht, wie wenig äußere und innere Konflikte, Einschränkungen und Belastungen zu trennen sind. Die wichtigere Frage ist: Wie können wir gemeinsam gegen ungerechte Lasten und politische Zumutungen, gegen „sinnloses Leid“ (Adorno) angehen? Ebenso bleibt auf Ressourcenebene gern außer Acht, was wirklich hält und trägt – nämlich in Bezug und Dialog zu sein, Verbundenheit und Solidarität auf persönlicher wie politischer Ebene zu erfahren. Nur im Licht dieser Zusammenhänge kann sich Wirklichkeit zum persönlichen und politischen Wohl aller verändern lassen.
Die methodische Trennung von inneren und äußeren Konflikten führt auf beiden Seiten zu fragwürdigen Deutungen und einseitiger Theoriebildung, ebenso zu wenig nachhaltigen Praktiken und Bildungsangeboten im Modus des Als-ob. Der Rechtsruck in Europa zum Beispiel trotz aller ambitionierten Konzepte der politischen Bildung und hoher Subventionen im Dienst einer flächendeckenden Demokratieerziehung zeugt davon; und auf personaler Ebene ist es die enorme Zahl von psychisch belasteten und seelisch überforderten Menschen, die systematisch alleingelassen werden in inneren wie äußeren Konflikten und Krisen.
Beide Ebenen sind aber in ihrem Bezug und Zusammenspiel wenig im Blick, aber es steht an, sie genau darin endlich besser zu verstehen. Eine Forderung, die sich ergibt aus den großen Herausforderungen der Zeit: Wie kann man – auf persönlicher wie politischer Ebene – einen Umgang finden mit Krieg und Krisen, mit politischer Spaltung und sozialer Ungleichheit, oder mit digitalem Wandel und einer virtuell entgrenzten, zugleich global vernetzten Welt?
Dass sich solche Fragen – sowohl auf persönlicher wie politischer Ebene – heute verstärkt stellen, muss aber keine Bedrohung sein und ist aus systemischer Sicht und von einer philosophischen Warte kein schlechtes Zeichen, denn: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann). Es verweist darauf, dass bestimmte Gewohnheiten und überholte Strukturen, alte Versprechen und scheinbare Selbstverständlichkeiten nicht mehr passen zu den Herausforderungen der Zeit. Den Menschen nicht mehr dienlich sind und destruktiv für die Welt.
Immer knapper werdende Ressourcen passen nicht zu einem unbedachten Verschwenden von Rohstoffen und Energie; enthemmte Märkte und Wirtschaftswachstum auf Kosten systematischer Ausnutzung und Unterdrückung von Menschen, passen nicht zu der Klage über die Spaltungstendenzen und Ungleichheit weltweit, erst recht nicht zu den Maßgaben unserer Gesellschaft und ihrer in Theorien und Sonntagsreden vehement vertretenen, aber im Handeln und Entscheiden zu wenig verteidigten Werte – wie Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit.
Erst wenn die Krise in ihrer Dringlichkeit spürbar wird, der Konflikt die Sicht auf die Widersprüche und Unvereinbarkeiten schärft, wird auch ein „Sprung über den Abgrund“ im Handeln möglich, den Martin Herrmann und Harald Lesch in ihrem Buch zur Klimakrise fordern.
Dass das Credo ständig steigenden Wirtschaftswachstums mit einer ebenso steigenden Herstellung von sinnentleerten Gütern und massiver Produktion von Müll einhergeht, wirft grundsätzliche Konflikte auf: Was brauche ich wirklich zum Leben, was nicht? Was wiegt mehr als anderes, wofür lohnt überhaupt Leben und ein Kämpfen über den Tellerrand des Alltags hinaus? Wie wollen wir in Zukunft leben? Und ist weniger mehr, wie Reinhold Messner in seinem neuesten Buch „Sinnbilder: Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben“ mit Eifer verkündet.
Er ist klug genug, nur freiwilligen Verzicht anzumahnen, nicht den erzwungenen zu propagieren. Denn nur wer hat, kann geben. Und der Ruf nach Verzicht kommt stets aus einem Gefühl von Fülle und Übermaß. Die große Frage nach dem guten Leben ist auch die Frage nach dem rechten Maß. Aber eine Frage, die man sich als Person in seiner jeweiligen Situation und sozialen Kontext leisten können muss.
Wer in existenzielle Not gerät oder in prekären Verhältnissen – physisch oder psychisch – lebt, kämpft gegen Mangel und für das Überleben, noch nicht für das ‚gute‘ Leben. Und doch ist die Sehnsucht danach allen Menschen eigen, was sich nicht zuletzt in der Möglichkeit der Frage danach und in dem Prinzip Hoffnung in fast jeder Lebenslage äußert.
Konflikte stellen in Frage, aber immer auch in die Entscheidung. Sie bringen ins Handeln und bringen zutage, was zählt und wem wieviel. Zeigen, worum es einer Person oder Partei letztlich geht. Damit treten Ziele, Werte und Ideale so deutlich wie sonst kaum zutage – und zwar die faktisch handlungsleitenden, nicht die theoretisch vorgeblichen. Insofern stärken Krisen eine Person oder ein soziales System oft an den wesentlichen Punkten, legen die tragenden Pfeiler und sinngebenden Fluchtpunkte individueller Existenz oder politischer Gemeinschaft frei.
Fragen nach Sinn und Orientierung, nach gutem oder besserem Leben stellen sich im inneren Konflikt mehr noch als im äußeren, wenn sie sich stellen, das heißt genaugenommen: wenn sie einen in Frage stellen!
Jedem ernsthaften Konflikt liegt ein Wertekonflikt zugrunde. Entweder zwischen zwei Parteien oder innerhalb einer Person, wenn man vor einer schwierigen Entscheidung steht oder im inneren Konflikt befangen ist („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, wie Goethes Faust schon klagt). Grund sind scheinbar gegensätzliche Ideale und Werte, oder eine unterschiedliche Gewichtung von dem, was man gut und richtig findet. Nicht selten geht es um fehlende Anerkennung oder um die Missachtung von etwas Wichtigem und Wertvollem der einen Seite („Seele“) gegenüber der anderen.
„Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander.“ Diese Zeile aus Hölderlins Hymne „Friedensfeier“ nennt den möglichen Ausweg: Frieden beginnt, wo ein Gespräch und neuer Anfang im Miteinander möglich wird. Und das ist prinzipiell immer möglich, weil wir schon immer „ein Gespräch sind“, auch wenn wir nicht im Gespräch sind, keine Worte füreinander finden, keine gemeinsame Sprache sprechen.
Hier ist anzusetzen und den Mut zu beweisen, den Auf- und Umbrüchen in Krisen und Konflikten vielstimmig Ausdruck zu verleihen, Reflexions- und Begegnungsräume genau dafür zu schaffen. Denn nur in einem geteilten Aufmerksamkeits- und Anerkennungsraum lassen sich Konflikte lösen und werden neue Wege aus Krisen erwachsen. Ziel wäre es, mit der Zeit besser zu verstehen, wie Konflikte im innerpsychischen und zwischenmenschlichen, im Sozialen und Politischen entstehen, aber auch wie sie sich im inneren und äußeren Dialog gut und konstruktiv lösen lassen. Dem widmet sich auch die Veranstaltungsreihe „Innere und äußere Konflikte“, die Expert:innen aus beiden Bereichen in Gespräch und Austausch bringt.
Dazu beizutragen, wäre zentrale Aufgabe von Persönlichkeitsbildung als politische Bildung – wider Sprachlosigkeit und Ignoranz im Inneren und Äußeren – und auch jenseits dieser schlicht binären, nur selten hilfreichen Unterscheidung.
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Text: Dr. Karin Hutflötz