Viele Christ:innen finden heute in der katholischen Kirche kein Zuhause mehr für ihren Glauben. Könnte dieses Obdachlos-Sein eine christliche Grundsignatur sein? Denn starre Regeln und Normen immer wieder zu sprengen – wie Jesus es tat – bedeutet oftmals auch, als Grenzgänger:innen unterwegs zu sein, schreibt Dr. Claudia Pfrang.
Obdachlos katholisch – mit diesen zwei schlichten wie einprägsamen Worten beschreibt die Religionswissenschaftlerin Regina Laudage-Kleeberg ihr aktuelles Sein in der Kirche: Als spirituelle Frau, die fest im katholischen Glauben verankert und in dessen Werten und Ritualen sie zu Hause ist. Als Mutter mit zwei kleinen Kindern, für die jeder „normale“ Gottesdienst zum Stresstest wird. Als langjährige Mitarbeiterin einer Institution, die dort Ausgrenzungs- und Entmutigungserfahrungen erlebt hat und oft enttäuscht und wütend ist. Sie liebt das Katholisch-Sein, mit dem Glauben an einen Gott, der den Menschen bedingungslos liebt und ihn in Freiheit entlassen hat. Mit einem Menschenbild, das die Würde jeder Person unbedingt schätzt, weil jede:r gleichermaßen Gottes Ebenbild ist. Sie ist nicht mehr bereit, die systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt, strukturellen Sexismus und die systematische Abwertung von queeren Menschen zu akzeptieren.
Obdachlos katholisch – der Titel des gleichnamigen Buches von Regina Laudage-Kleeberg hat mich sofort in den Bann gezogen. In diesen beiden Worten steckt, was viele Menschen und auch ich selbst fühlen: gern katholisch zu sein mit all dem, was das Katholisch-Sein ausmacht – seinem Gottes- und Menschenbild, seinen tragenden und menschendienlichen Ritualen. Aber auch in der Institution immer öfter wie obdachlos zu sein. Ein Obdach für die katholische Seele und eine lebendige, christliche Gemeinschaft nur noch selten zu spüren oder gar verloren zu haben. Das Dilemma fasst Regina Laudage-Kleeberg so zusammen: „Die römisch-katholische Kirche ist Heimat, aber kein Zuhause mehr. Dabei hätte sie alles Potential dazu, Menschen ein passendes Zuhause anzubieten. Sie bräuchte nur im Sinne des Evangeliums handeln: radikal menschenfreundlich.“ (S. 14)
Mit vielen Anderen spüre ich einen tiefen Antrieb, einen Schritt ins Weite hinaus zu treten. Veraltete Formen, festgefahrene Traditionen und unhinterfragte Machtstrukturen zurückzulassen. Gerade haben wir Pfingsten gefeiert, ein Fest, das vor allem für die Lebendigkeit und Vielfalt des christlichen Glaubens steht. Die Jüngerinnen und Jünger brachen aus der Enge auf und gingen in alle Welt.
Ein Obdach für die Seele
suchen
im Unterwegs-Sein
finden
mit den Menschen,
die unterwegs sind
in den Fußspuren dessen,
der unterwegs war zu den Menschen
CLAUDIA PFRANG
Vielleicht ist das Obdachlos-Sein eine christliche Grundsignatur. Obdachlos-Sein heißt, unterwegs sein zu müssen, keinen Ort zu haben und sich immer wieder der Fremde auszusetzen. Heißt auch, sich ausgegrenzt zu fühlen und nicht dazuzugehören. Obdachlos-Sein ist eine wahre Herausforderung für den, der obdachlos ist und den, der Obdachlosen begegnet.
Hat nicht Jesus seine ersten Jünger:innen dazu aufgerufen, hinauszugehen in alle Welt und keinen Geldbeutel mitzunehmen? Sich den Menschen und all dem, was sie bewegt, auszusetzen, sich ihnen zuzuwenden, zuerst danach zu fragen, was die Person braucht, um erst auf dieser Basis vom Reich Gottes zu sprechen? Eben radikal menschen- und damit gottesfreundlich zu leben und zu handeln. Wurde uns nicht dazu der Beistand des Geistes versprochen, der weht, wo er will?
Jetzt wird es konkret! Mitten in der Glaubens- und Kirchenkrise fragen wir nach der Zukunft des Glaubens und nach konkreten Ansatzpunkten, diese zu gestalten. Mit möglichst vielen Mitdenker:innen und Mitmacher:innen erkunden wir Wege, wie der Glaube heute neu gelebt werden kann und zu den Menschen kommt. In der Katholischen Hochschulgemeinde an der LMU München.
Ich begegne vielen Menschen, die derzeit obdachlos katholisch unterwegs sind. Uns eint die Sehnsucht nach einem Schöpfen aus den Quellen des Glaubens und einer Gemeinschaft, die das Evangelium glaubwürdig teilt und in die Welt trägt. Und gleichzeitig eint das Gefühl, als Grenzgänger:in in der Institution unterwegs zu sein. Aber gehört das nicht dazu, wenn wir in den Fußspuren eines Mannes unterwegs sind, der immer wieder starre Regeln und Normen in der eigenen Religion kritisiert hat?
Ich wünsche uns mehr Mut, den Glauben mit Gleichgesinnten zu leben und zu feiern, ohne gleich die Schere im Kopf zu haben, ob das „richtig katholisch“ und gültig ist. Wo es Menschen gibt, die andere in ihrer Würde achten, sich nach den Bedürfnissen der Menschen ausrichten, die im Geiste Jesu danach fragen, wie die Welt solidarischer und gerechter werden kann, auch wenn das mit dem Verlust eigener Privilegien einhergeht, da leben wir in der Nachfolge Jesu. Vielleicht wird dann die Erfahrung des Obdachlos-Seins zu einem neuen Dach für das Katholische, das in die Weite führt. Dass so etwas gelingen kann, erfahre ich persönlich und in unserer Akademiearbeit immer wieder.
Text: Dr. Claudia Pfrang