Klima, Migration, Radikalisierung … viele Herausforderungen der Gegenwart werden wir mit alten Denkansätzen nicht lösen. Die multiplen Krisen unserer Zeit können Angst machen, sogar lähmen. Doch Krisen sind immer auch eine Chance zum Aufbruch. Wie können wir neue Ideen zulassen und die Welt mitgestalten? Eine Rückschau auf spannende Thesen unserer „Zeitansagen“-Reihe.
Wir leben in einer Zeit vielfältiger sich überlagernder und verwobener Krisen. Das überfordert viele Menschen und führt oft dazu, dass Krisen lieber verdrängt werden, statt sich ihnen zu stellen und sie als eine Chance zum Aufbruch, zum Gestalten von Neuem zu begreifen. Doch eines zeigt sich schon heute: Mit den vorhandenen Lösungsansätzen – verhaftet in alten Mindsets – werden sich viele grundlegende Probleme der Gegenwart nicht lösen lassen.
Festgefahrene Denkmuster aufbrechen und damit neue Ideen zulassen: Gemeinsam mit der Katholischen Landvolkbewegung Bayern haben wir uns auf die Suche nach Lösungen gemacht. Ideen, die wieder Mut machen, die Welt mitzugestalten. Dazu haben wir im Frühjahr in unserer Reihe „Zeitansagen – neue Denkansätze in krisenhaften Zeiten“ Expert:innen zu drei großen Krisen unserer Zeit zum Gespräch eingeladen:
Das Ziel: Jenseits festgefahrener Mindsets nach Lösungen suchen – und das „Out of the box“. Nach drei inspirierenden und facettenreichen Abenden zog sich eine Erkenntnis durch alle Lösungen hindurch: Wir müssen die Komfortzone verlassen und den Mut aufbringen, umgehend neue Wege einzuschlagen.
Für jede Veranstaltung wurden die zentralen Ergebnisse von Zeichnerin Brigitte Seibold visualisiert. Durch diese Graphic Recordings (graphisch gestaltete Ergebnisübersicht) können Sie in die Erkenntnisse der Abende eintauchen.
Nicht erst die Wahl eines AfD-Landrats in Thüringen zeigte: Unsere Demokratie ist in Gefahr. Laut der Politikwissenschaftlerin Prof.in Dr.in Brigitte Geißel und dem Soziologen Prof. Dr. Holger Lengfeld braucht es in unserer Gesellschaft mehr Mut, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Es gibt, obwohl uns das oft so vorkommt, keine zwei Meinungspole in unserer Gesellschaft, sondern multiple Konfliktachsen zu Themen wie Migration, Klimawandel, Gendersensibilität und vielen weiteren, so Prof. Lengfeld.
Setzt man Menschen jedoch wieder an einen Tisch, führt das oft zu erstaunlichen Ergebnissen. Der „Tisch“ ist im Falle von Prof.in Geißel ein Bürgerrat, eine innovative Form der Bürgerbeteiligung, die fern von Lobbyismus und Wahlperioden gemeinnützige und zukunftsweisende Entscheidungen erarbeitet und trifft. Sie propagiert ein Modell, bei dem basisdemokratische und repräsentative Parlamente wirksam zusammenarbeiten.
Eine zentrale These zum Weiterdenken, die wir nach dem Abend formuliert haben: Menschen mit unterschiedlichem Einstellungsmuster (z. B. traditionell oder mobil) kommen zu wenig in Kontakt. Mindsets können sich verändern, wenn sehr verschiedene Menschen gemeinsam und moderiert an Themen arbeiten.
Zur Klimakrise wurde schon viel gedacht, geschrieben und gesagt. Darin waren sich auch die Experten Dr. Georg Feulner vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Bernd Ulrich von der ZEIT einig. Der Mut, der nun gefragt sei, ist die ZuMUTung. Denn zu lange sei der Ansatz gewesen, kleine Schritte zu gehen, um jede:n mitzunehmen und das Altbewährte als „normal“ zu framen, obwohl unser schädliches Verhalten „radikal“ mit der Welt umgeht, auf der wir leben.
Bernd Ulrich sprach deshalb von 90°-Winkeln, bei denen das Gehirn einmal um die Ecke gehen muss. Alte Denkstrukturen müssen dafür komplett gelöscht werden. Der Ansatz beschreibt vom Ziel ausgehend zu denken – nämlich eines gesunden Ökosystems – statt vom Status Quo aus. Dann entwickeln sich automatisch neue Lösungen, die auch funktionieren. Wenn wir beispielsweise das Ziel, die Bienen und damit unsere Nutzpflanzen um jeden Preis zu erhalten, über die Interessen des Autoverkehrs stellen, denken wir bei der Bebauung und Versiegelung von Flächen nicht mehr von Interessen der Autofahrer:innen her. So kommen neue Lösungen der Bebauung und der Mobilität zum Vorschein.
Eine zentrale These zum Weiterdenken: Da uns Wissen zu viel werden kann, nutzen wir vielfältige Formen der Verdrängung. Mindsets können sich verändern, wenn wir das bisherige Vorgehen und den Status Quo infrage stellen, die Blickrichtung ändern und sich dadurch Möglichkeitsräume öffnen.
Die kollektive Sinnkrise analysierten unser Referent für Theologische Erwachsenenbildung Dr. Thomas Steinforth und die Benediktinerin Sr. Emmanuela Kohlhaas. Sie steht in direktem Zusammenhang mit den multiplen Krisen unserer Zeit und entsteht aus einem Gefühl der Abwärtsspirale und Resignation.
Und wieder braucht es Mut – diesmal: die Krise als Chance wahrzunehmen. Wenn der Mut selbst nicht mehr aufzubringen ist, müssen erMUTigende Zukunftsbilder geschaffen werden, gute Geschichten erzählt werden, die einen konkreten Ausweg aufzeigen. Zudem braucht es, so Schwester Emmanuela, eine Prise Trotz als eine positive Kraft der Selbstermächtigung.
Eine zentrale These zum Weiterdenken: Unsicherheit und Aufregung entstehen, verstärken sich und führen zuweilen in eine Abwärtsspirale. Doch Mindsets können sich verändern, wenn wir auf unsere Möglichkeiten schauen – und mutig handeln
Trotz all der Erkenntnisse blieb jedoch eine Frage offen: WIE schaffen wir es, diese Vorsätze umzusetzen? Dieser Herausforderung haben wir uns in der Abschlussveranstaltung gewidmet – unter dem Titel „Auf-Bruch! Wie verändern wir unsere Mindsets?“
Die Antwort gab Sozialpsychologe Prof. Immo Fritsche an einem abschließenden vierten Abend: Der:die Einzelne braucht die Gruppe. Bei allen aufgezeigten Krisen handelt es sich um kollektive Krisen, in denen nicht Einzelne, sondern Kollektive die Akteure sind. Eine Fokussierung auf meinen eigenen Handlungsspielraum führt meist zu persönlich erlebter Hilflosigkeit („Was bringt es, wenn ich auf Fleisch verzichte“, „Was wird meine Stimme bei der Wahl schon bewirken“). Spüre ich aber, dass viele meine Einstellung teilen, oder vermute ich sogar nur, dass eine Mehrheit so handelt, erhöht das meine Bereitschaft zu handeln, was Prof. Fritsche eindrucksvoll mit Belegen aus seinen Feldstudien untermauerte. Legt man den Fokus in der Kommunikation von Krisen also auf die kollektive Wirksamkeit, fühlt sich der:die Einzelne wirksam und handelt.
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Text: Kathrin Steger-Bordon
Copyright Graphic Recordings: Brigitte Seibold