Frau Dr. Pfrang reflektiert zum Auftakt des neuen Saisonthemas die Herausforderungen des modernen Lebens, insbesondere den Druck durch den "Mental Load" und die ständige Präsenz von analogen und digitalen Verpflichtungen. Ein erfülltes Leben besteht nicht nur aus glücklichen Momenten, sondern erfordert auch das Durchstehen von Herausforderungen. Schafft man es bewusster zu leben und auf dem Weg zu einem erfüllten Leben Momente der Fülle zu suchen und zu finden?
Das Jahr ist noch nicht mal einen Monat alt und bereits nach den ersten acht Tagen hatte mich schon der Alltag komplett eingeholt. Sie auch? Angesichts der Fülle an Aufgaben und Terminen rücken die guten Vorsätze schnell in den Hintergrund. Leider. Die nicht enden wollende Liste an Aufgaben und dazu der Mental Load, die unsichtbaren To-dos, die es tagtäglich abzuarbeiten gilt: Ist genug Brot zu Hause? Welcher Geburtstag steht an? Und bei all dem stellt sich für mich immer stärker die Frage: Wie gelingt es, Zeit für meine Herzensanliegen zu haben?
Das Leben ist prall gefüllt, und nach einer kurzen Zeit der Entschleunigung in der Corona-Zeit scheint das Leben für die meisten Menschen noch voller geworden zu sein. Es gilt, analoges und digitales Leben täglich zu vereinen. Wir sind oftmals auf so vielen Kanälen unterwegs, dass uns kaum noch Zeit für das „wirkliche Leben“ bleibt. Angesichts der Fülle an Informationen fühlen wir uns gehetzt, wir verlieren nicht selten der Blick für das Wesentliche und unsere Prioritäten. Die stete Fülle fühlt sich gleichzeitig zunehmend entleert an. Burn-out, Ängste und Depressionen – besonders erschreckend ist die Zunahme psychischer Krankheiten bei Jugendlichen - sind nicht zufällig die Symptome unserer Zeit, so analysiert treffend meine Kollegin Karin Hutflötz in ihrem Leitartikel zum Saisonthema in unserem gerade eben erschienenen Magazin.
Die Sehnsucht nach Leben, nach mehr Zeit für sich und die Beziehungen zu Menschen, die mir wichtig sind, wo findet sie Erfüllung und Raum zur Realisierung? Haben Sie dafür eine Lücke in Ihrem Terminkalender? Ich habe mir tatsachlich angewöhnt, Freiraume in meinem Kalender zu notieren, um dem Leben die gleiche Wichtigkeit zu geben wie all den vielen beruflichen Verpflichtungen.
Unser Saisonthema „Wenn aus Fülle Leere wird“ nimmt die Fragen nach Mentaler Gesundheit – was sie angreift und was uns stärkt“ mit vielfältigen Veranstaltungen in den Blick. Um eigene Ängste und Schamerfahrungen bei uns und anderen besser wahr- und ernst zu nehmen, um uns darin zu bestärken, Zeit für sich und andere zu finden, um in diesen so herausfordernden Zeiten heil zu bleiben – persönlich und als Gesellschaft. Wie und dass dies möglich ist, zeigt gerade der „Aufstand der vielen“ gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit.
Die Frage, wie wir zu einem erfüllten, gelingenden Leben finden – theologisch gesprochen: zu einem Leben in Fülle (Joh 10,10) –, gehört für mich zu den Fragen, denen wir uns gerade um des eigenen Daseins willen stellen müssen. Wie kommen wir von der Leere in und um uns zur Erfahrung der Fülle? Was meinen wir damit? Wie sieht ein Leben in Fülle aus?
Psalm 23 gibt eine Ahnung davon:
Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Meine Lebenskraft bringt er zurück.
Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen.
Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil;
denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.
Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.
Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher.
Wo sind unsere grünen Auen und Ruheplätze am Wasser des Lebens? Wann können wir dieser Sehnsucht nachgehen? Wo haben wir unverplante Zeit, offene Augen und Ohren für das, was um uns herum geschieht?
Wo können wir noch „Löcher in die Luft“ schauen, positiv verstandene Langeweile aushalten, die innere Leere zulassen, um zur Ruhe und nach innen zu finden, um neu gefüllt zu werden mit Gedanken, Ideen, Kreativität. Vielleicht können wir ab und an den Wert der Langeweile entdecken. Nach einer vollgestopften Woche einfach dasitzen, sich nicht digital ablenken. Staunen über das, was sich in der Woche ereignet hat.
Das erfüllte Leben, so beschreibt es der Psalm in bildreicher Sprache, ist aber nicht nur das Leben voller glücklicher Augenblicke. Das Durchwandern eines finsteren Tals gehört dazu. Manchmal braucht es den Mut, sich den inneren Tiefen zu stellen im Vertrauen darauf, dass man nicht alles allein schaffen muss. Wer kennt nicht das beglückende Gefühl, einen Bergaufstieg gewagt und geschafft zu haben.
„Leben in Fülle“ist kein Wellness-Programm, aber ein Weg zu mehr Bewusstheit, ein Weg zu sich selbst und zu anderen, und darüber hinaus: eine Verheißung.
Ich wünsche Ihnen im noch jungen neuen Jahr viele erfüllende Momente auf dem Weg zu Ihrem Leben in Fülle!
Ihre Claudia Pfrang