Es sind wahre Kartage, die viele Menschen gerade erleben. Tage voller Kummer, Klage und Trauer. Wie können wir inmitten aller Herausforderungen, aller Fassungslosigkeit und Ohnmacht aufstehen für das Leben? Reflexionen von Dr. Claudia Pfrang im neuen Director’s Blog
Es sind wahrlich Kartage, die die Menschen in der Ukraine, aber auch in anderen Ländern der Erde erleben: Tage, die von Hunger, Katastrophen und Krieg geprägt sind. Tage voller Kummer, Klage und Trauer, wie es das althochdeutsche Wort „kara“ ausdrückt. Klage über Verwüstung und Zerstörung, Trauer über Tod und Verlust, Kummer darüber, wie es wohl weitergehen wird. Kummer, Klage und Trauer erleben viele Menschen, die unter den Folgen der Pandemie leiden.
Wie lernt man, sich nicht vor dem Tod zu fürchten und an die Auferstehung zu glauben? Diese Frage einer jungen Ukrainerin bei unserer Veranstaltung „Leben und Glauben im Krieg: Stimmen aus der Ukraine“ am Dienstag in der Karwoche hat mich aufgerüttelt. Wie lernt man aufzustehen für das Leben – mitten in aller Ohnmacht und Fassungslosigkeit?
Da sind der Karfreitag und der Schrei Jesu: „Warum hast du mich verlassen?“ Er drückt die ganze Ohnmacht und Verlassenheit aus, die wir im Leben immer wieder erfahren und die wir nicht ausblenden dürfen. Die Ohnmacht über die Brutalität des Krieges, die Fassungslosigkeit über die Verbrechen, die an Menschen geschehen. Ohnmächtig muss ich eingestehen: Ich kann nicht alles verändern. Aber ich kann, ja darf wie Jesus klagen, anklagen – auch Gott. Ja, ich muss es sogar: das Leid öffentlich machen. Mich auf die Seite der Opfer stellen und die Verbrechen anklagen.
Da ist die Trauer des Karsamstags, das Beweinen des Verlusts. Welchen Verlust habe ich zu beklagen? Den Verlust von lieben Menschen, von Sicherheit und Gesundheit? Den Verlust eines Obdachs für Leib und Seele? In diesen Tagen sind es für mich der Verlust der alten Sicherheiten und Gewissheiten. Traurig bin ich darüber, wie wir unseren Planeten weiter zerstören, traurig darüber, dass es nicht gelingt, in Frieden zu leben, traurig über den zunehmenden Rassismus und Extremismus in unserem Land, traurig über eine Kirche, die immer noch an alten Machtstrukturen festhält. Es ist das schmerzliche Abschiednehmen von bisherigen Grundannahmen wie „Nie wieder Krieg“.
Trauern geht einher mit dem schmerzhaften Weg des Akzeptierens, dass nichts mehr so ist und sein wird, wie es war. Mich beschäftigt: Wie kann es uns als Individuum und als Gesellschaft gelingen, zu trauern, um die Krisen unserer Zeit als Zeitenwende zu gestalten? Als Zeitenwende, für die wir auch bereit sind, Egoismen und alte lieb gewordene Gewohnheiten loszulassen?
--- Claudia Pfrang
Unsere Hoffnungsträger:innen, mit denen wir in der Fastenzeit gesprochen haben, haben mir viel Mut gemacht. Es sind Menschen, die wie der Kabarettist Christian Springer nicht wegschauen, sondern Verantwortung übernehmen. Auch auf die Gefahr hin, Fehler zu machen. Das ist immer noch besser, als nicht aktiv zu werden. Denn Menschen brauchen Vorbilder, die bei allen Schwierigkeiten nach vorne gehen und zeigen, wie Veränderung gelingen kann.
Das sind Menschen wie die Pfarrerin Mirjam Elsel, die aus der Botschaft heraus lebt, dass Gott befreit, die sich für den Frieden in unserer Gesellschaft einsetzt und für die Verantwortung ebenfalls ein Schlüsselwort ist: Verantwortung für die Schwächsten in der Gesellschaft und der Einsatz gegen jede Form von Extremismus.
Es sind Menschen wie Gina Schöler, die vor zehn Jahren das Glücksministerium gegründet hat und die morgens nicht zuerst die Nachrichtenlage auf dem Handy checkt, sondern ihr Kontaktbuch durchgeht und einer Person eine kurze mutmachende Nachricht schreibt.
Es sind Menschen wie der deutsch-ägyptische Künstler und Aktivist Achim Waseem Seger, der sich den Werten von „Peace, Love, Unity and having Fun“ verschrieben hat und sich auf vielfältige Weise aktiv gegen Diskriminierung und Rassismus einsetzt.
Und es sind Menschen wie die Palliativmedizinerin Claudia Bausewein, die Erkrankten ein gutes Sterben ermöglicht und von ihnen gelernt hat, die Dinge, die wir oft als selbstverständlich wahrnehmen, mehr zu schätzen.
Es sind Menschen, die die Realität nicht ausblenden oder wegschauen, die nicht weglaufen. Nein, es sind Menschen, die auch in aussichtslosen Situationen nicht aufgeben und fest daran glauben, dass sie etwas verändern können. Die anderen eine Stimme geben und sich einsetzen, kurz: die aufstehen für das Leben und neues Leben ermöglichen. Das ist letztlich Auferstehung – nicht einst in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt, heute. Auferstehung, so der frühere Abt von Einsiedeln und spirituelle Autor Martin Werlen, „geschieht seit jeher, wenn alles zum Davonlaufen ist“, wir aber die Hoffnung nicht verlieren und uns trotz allem für das Leben einsetzen.
Wie lernt man, sich nicht vor dem Tod zu fürchten und an die Auferstehung zu glauben? Die Antwort der jungen Ukrainerin war: „Mir hilft die praktische Solidarität von Menschen, das Vertrauen auf Gott, das Schauen nach vorne und manchmal einfach die Frage: Wie geht es dir?“
Das können wir alle: aufstehen für das Leben. Dazu wünsche ich Ihnen Kraft und Zukunftsmut!
Lassen Sie sich von mutigen Menschen mitnehmen: auf den Spuren der Zuversicht in eine ungewisse Zukunft. Im Video-Interview sprechen Künstler:innen, Aktivist:innen, Hoffnungsträger:innen über gute Wege in ein neues Morgen. Schritt für Schritt.