Spiritualität steht hoch im Kurs. Was Menschen mit der Selbstbezeichnung „spirituell“ meinen, ist allerdings höchst individuell. „Spiritualität“ ist ein Containerbegriff, der mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten gefüllt wird. Und doch gibt es ein Merkmal, das in vielleicht jedem Verständnis von Spiritualität eine Rolle spielt: Bezeichnen sich Menschen als „spirituell“, meinen sie in der Regel damit auch, bestimmte Erfahrungen zu suchen. Was zeichnet spirituelle Erfahrungen aus?
Immer wieder stieg er nachts aufs Dach. Denn: „Den größten Trost empfing er, wenner den Himmel und die Sterne betrachtete.“ Die wiederholte Erfahrung des unfassbar weiten Sternenhimmels macht etwas mit ihm. Sie tröstet ihn, sie bewegt ihn, richtet sein Handeln und Leben aus: „Dabei fühlte er in sich eine ganz große Begeisterung, unserem Herrn zu dienen.“ So beschreibt Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert das, was wir heute eine „spirituelle Erfahrung“ nennen: eine Erfahrung, die uns berührt, bewegt und begeistert. Szenenwechsel ins fiktive 20. Jahrhundert: Die Schurkin Elektra King will James Bond bestrafen, sie legt ihm eine Schlinge um den Hals und sagt bitter: „Ich hätte dir die Welt schenken können.“ Er entgegnet: „Die Welt ist nicht genug.“ James Bond mag alles andere als ein spiritueller Mensch sein. Und doch spricht er aus, dass wir oft etwas suchen, das über die Welt als Inbegriff alles faktisch Gegebenen qualitativ hinausgeht. Ein Suchen, das die Suchenden selbst nicht selten als „Spiritualität“ bezeichnen. Spiritualität steht hoch im Kurs. Was Menschen mit der Selbstbezeichnung „spirituell“ meinen, ist allerdings höchst individuell. „Spiritualität“ ist ein Containerbegriff, der mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten gefüllt wird. Und doch gibt es ein Merkmal, das in vielleicht jedem Verständnis von Spiritualität eine Rolle spielt: Bezeichnen sich Menschen als „spirituell“, meinen sie in der Regel damit auch, bestimmte Erfahrungen zu suchen. Was zeichnet spirituelle Erfahrungen aus?
Fragt man religiöse Menschen nach ihren spirituellen Erfahrungen, deuten sie diese oft als eine Erfahrung Gottes oder seiner Präsenz in der Welt. Auch wenn Gott letztlich verborgen und dem menschlichen Zugriff entzogen bleibt, kommen Menschen in dieser Sichtweise in ihren spirituellen Erfahrungen doch in eine Berührung mit göttlicher Wirklichkeit, manchmal gesteigert bis hin zur mystischen Begegnung. Glaube ist dann mehr als ein Für-Wahr-Halten von Glaubenssätzen – er wird zu einem berührenden In-Beziehung-Treten. Insofern Gott nicht als von anderen Wirklichkeiten getrennt verstanden wird, kann diese spirituelle Berührung mit Gott, mit dem Göttlichen sich durchaus in der Begegnung mit „irdischen“ Wirklichkeiten (Naturphänomene, ästhetischkünstlerische Phänomene, andere Menschen, Gemeinschaft, die eigene Person) vollziehen zugleich einer anderen, als göttlich gedeuteten Wirklichkeit begegnen. Worauf aber beziehen sich Menschen, die nicht an einen Gott glauben? Geht man von dem aus, wie diese die von ihnen selbst als „spirituell“ bezeichneten Erfahrungen deuten, beziehen sie sich darin nicht auf jenseitige, die Welt übersteigende Phänomene. Allerdings wird die Realität – so eine häufige Deutung – anders wahrgenommen,
manchmal heißt es auch „tiefer“ oder „umfassender“: In der spirituellen Erfahrung nehmen wir Qualitäten wahr, die unseren üblichen Erfahrungsweisen oft nicht zugänglich sind. Die Wirklichkeit erscheint dann nicht als bloße Faktizität, nicht als berechenbares Objekt; wir sehen sie nicht durch die Brille unserer Verwertungsabsichten. Sie erscheint uns in ihrem eigenen, von uns unabhängigen Wert, als in sich wert- und sinnvolle, nicht selten schöne und oft auch erstaunliche Wirklichkeit. Zugleich – auch das eine häufige Beschreibung religiöser wie nicht-religiöser Menschen – erleben wir die Einzelphänomene in einem tieferen
Zusammenhang, in einer Verbundenheit, die uns selbst miteinschließt – während wir uns doch sonst sehr oft als ein „Ich“ erleben, das sich der Wirklichkeit gegenüberstellt. Manchmal ist von einem „ozeanischen Gefühl“ die Rede, und das Verbundenheitsgefühl kann die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt durchlässig machen. Das muss keineswegs als bedrohlicher Selbstverlust erlebt werden – ganz im Gegenteil, kann diese Erfahrung (scheinbar paradox) zu einem intensivierten Selbstbezug führen. In Gesprächen über Spiritualität ist oft von Transzendenz die Rede. Als religiöser Mensch beziehe ich mich in der spirituellen Erfahrung, auch wenn ich mich zunächst auf etwas in der Welt beziehe, zugleich auf etwas, das über diese Welt hinausgeht – auf eine göttliche Kraft oder ein göttlich-personales Wesen. Aber auch Menschen, die sich selbst nicht als religiös verstehen, sprechen zum Teil von einer Transzendenz-Erfahrung als Erfahrung einer Wirklichkeit, die „mehr“, „tiefer“, „höher“ oder „umfassender“ als die Wirklichkeit ist, wie wir sie üblicherweise erfahren, deswegen aber nicht in einem „Jenseits“ der Welt verortet wird. Von der Theologin Dorothee Sölle stammt die Formulierung, dass es „mehr als alles“ gebe. Vielleicht können bei aller Unterschiedlichkeit sowohl religiöse wie nichtreligiöse Menschen ihren spirituellen Bezug zum „Transzendenten“ auch so beschreiben: als Suchen und Erfahren dieses schwer benennbaren „Mehr“.
In einem etwas anderen Sinne deuten viele Menschen, ob religiös oder nicht-religiös, ihre spirituellen Erfahrungen als Erfahrung der „Selbsttranszendenz“: Sie erleben, über ihre bisherigen Wahrnehmungshorizonte, auch aus ihrem Kreisen um eigene Sichtweisen und Anliegen hinauszugehen oder hinausgezogen zu werden. Zwar vollzieht sich die spirituelle Erfahrung achtsam im „Hier und Jetzt“, anders als in unserem alltäglichen, oft zerstreuten Wahrnehmungsmodus. Zugleich aber können wir gerade in diesem „Hier und Jetzt“ ein „Darüber hinaus“ erleben, insofern wir über unsere Grenzen und uns selbst hinausgehen können. Auch hier kann das Über-Sich-Selbst-Hinaus scheinbar paradox den Selbstbezug stärken: Vielleicht finden wir unsere innere Mitte gerade dann, wenn wir über uns hinausgehen.
Spirituelle Erfahrungen können uns verändern und „transformativ“ wirken. Aus ihnen kann eine veränderte Einstellung erwachsen. Eine Einstellung, die uns die Wirklichkeit anders sehen und deuten lässt, die aber auch das Handeln prägt, auch das Handeln für Andere und für die Welt bis hin zum politischen Engagement. Ein sogenannter „spiritueller Mensch“ macht also nicht nur bestimmte Erfahrungen – er handelt und lebt aus ihnen. Wodurch kann sich eine spirituell geprägte Einstellung auszeichnen?
Viele Menschen suchen in unserer Zeit, in Krisen und Umbrüchen nach Halt, Sinn und Orientierung. Oft verspüren sie ein Unbehagen angesichts von Einstellungen und Lebensstilen, die unzufrieden machen, einem selbst und der Mitund Umwelt schaden. Spiritualität, verstanden als eine sich aus Erfahrungen speisende, handlungsleitende Einstellung ist daher sehr gefragt.
Viele Menschen suchen diese Erfahrungen nicht mehr in kirchlich organisierter Religiosität. Für die Zukunft des Glaubens ist es daher wesentlich, die vielfältigen Schätze der eigenen spirituellen Traditionen wieder zu heben und fruchtbar zu machen für unsere Zeit. Es braucht Orte, an denen spirituelle Erfahrungen möglich werden und an denen sie bezeugt und ins Wort gebracht werden können (auch wenn das sprachliche Artikulieren einer spirituellen Erfahrung nur bedingt möglich ist). Zugleich können wir
auch dort, wo Menschen außerhalb kirchlichchristlicher Deutung wertvolle spirituelle Erfahrungen machen, etwas Gutes (einen guten Geist) wirken sehen, und den Dialog suchen. Da spirituelle Erfahrungen auf existenzielle Bedürfnisse der Menschen antworten und sehr wirksam sein können, ist Spiritualität nicht per se gut oder harmlos. Sie kann egozentrisch auf Wellness reduziert werden, sie kann Menschen verleiten, sich über andere zu erheben. Auch mit Blick auf die Spiritualität gilt: An ihren Früchten lässt sie sich bewerten! Vor allem aber kann das Suchen von Menschen nach spirituellen Erfahrungen im Zuge von subtilen Machtbeziehungen ausgebeutet werden. Spirituell suchende Menschen sind besonders verwundbar. Hier braucht
es die „Unterscheidung der Geister“ und begleitende Menschen, die dazu fähig sind. Einen sorgsamen Umgang mit dem spirituellen Suchen vorausgesetzt, ist Spiritualität zwar kein Glücksbringer, der uns Brüche und Grenzen Lebens vergessen lässt, kann aber wohl eine starke Kraft- und Orientierungsquelle für ein engagiertes, stimmiges und als wert- und sinnvoll erlebtes Leben sein.
Text: Thomas Steinforth