Der Mensch braucht Sinn wie die Luft zum Atmen. Selbst in Extremsituationen kann er uns Halt, Kraft und Orientierung geben, uns bestärken, weiterzumachen. Sinn zu finden, ist dabei eine Aufgabe, die sich ein ganzes Leben lang stellt. Was zählt wirklich? Was trägt und hält, wenn der Boden schwankt? Reflexionen von Dr. Claudia Pfrang zum Auftakt des neuen Saisonthemas.
Rund um den vergangenen Freitag, dem internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust, fanden in ganz Deutschland Zeitzeug:innengespräche statt. Ich selbst durfte an einem Gespräch mit Charlotte Knobloch im Jüdischen Museum München teilnehmen, organisiert von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit vielen Kooperationspartner:innen, darunter auch die Domberg-Akademie. Es war beeindruckend, ihre Erinnerungen an ihr Überleben im Versteck in Mittelfranken, die Nachkriegszeit in München und ihr stetes Bemühen um ein friedliches Zusammenleben und den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in München zu erleben. Immer wieder fiel der Satz, dass ihr Vater so sehr an die Zukunft einer neu definierten demokratischen Gesellschaft in Deutschland glaubte, dass er blieb. Das war, so habe ich es erlebt, eine starke Triebfeder für Charlotte Knobloch selbst, sich trotz aller Erfahrungen so engagiert für den Aufbau der jüdischen Gemeinde und ein menschliches und demokratisches Miteinander in der Stadtgesellschaft einzusetzen. Sie tut es mit ihren 90 Lebensjahren noch immer – trotz aller Rückschläge der letzten Zeit. Es ist zu ihrem Lebensinhalt geworden. (Die Aufzeichnung der Veranstaltung im JMM können Sie untem im Video sehen.)
Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, der den ersten psychologisch begründeten Ansatz entwickelte, um Menschen zu helfen, die sich mehr Sinn in ihrem Leben wünschen, war ebenfalls wesentlich geprägt durch seine Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern. Seine Erlebnisse schilderte er in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“. Er fand heraus, dass Menschen, die eine Sinn-Perspektive und tragende Hoffnung für sich haben, auch körperlich widerstandsfähiger sind. Dies ist wissenschaftlich mittlerweile auch abseits von Extremsituationen bestätigt.
In diesen krisenhaften Zeiten, wie wir sie gerade erleben, und dem damit drohenden Verlust von Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, brechen nicht umsonst bei vielen Menschen tiefere Fragen auf: Was zählt wirklich in meinem Leben? Was trägt und hält, wenn der Boden schwankt? Wo finde ich Sinn und Orientierung? Es sind die großen Fragen, die auch im Mittelpunkt unseres ersten Saisonthemas dieses Jahres mit dem Titel „Sinn suchen“ stehen.
Sinn
So notwendig
wie die Luft zum Atmen
So wichtig
wie ein roter Faden
Nicht einfach zu entwickeln
Manchmal
wenn nicht immer
eine Gnade
Immer ein Geschenk
Für mich und andere
--- Claudia Pfrang
„Menschen brauchen Sinn wie die Luft zum Atmen“, schreibt meine Kollegin Karin Hutflötz im neuen DA-Magazin, das vielleicht schon bei Ihnen im Postkasten lag. Sinn zu finden, „erfordert immer mal innezuhalten und sich zu verorten auf dem eigenen Weg und im Leben. Ohne sich hin und wieder Zeit zu nehmen und die Geduld zu haben für einen solchen Blick, verliert man leicht den Sinn für Prioritäten und die Orientierung unterwegs.“
Der Untertitel unseres Saisonthemas bringt die Sinnsuche dementsprechend in drei Begriffen auf den Punkt: Innehalten. Halt finden. Sich nicht aufhalten lassen. Wenn Menschen sich immer wieder vergewissern, was ihnen Boden unter den Füßen gibt, wo sie wirklich Halt finden, können sie sich getrost auf eine Sinnsuche einlassen, die nach vorne hin offen ist. Menschen, die eine für sich sinnvolle Aufgabe und Orientierung gefunden haben, damit für sie sinnvolle Ziele im Leben, lassen sich nicht aufhalten, diese umzusetzen, auch wenn es einmal schwierig wird.
Sinn zu finden, ist eine Aufgabe, die sich ein ganzes Leben lang stellt, gerade an den biographischen Umbrüchen und Brüchen. Da merkt man, dass es oft keine einfachen Antworten gibt und noch so gut gemeinte Patentrezepte meist sinnlos sind. So mancher Rat ist dann eher ein Schlag ins Gesicht – statt ein Mantel, der in kalter Zeit wärmt.
Die Suche nach dem Sinn unterscheidet sich dabei wesentlich von der Suche nach Glück. Während Glückssuche im Hier und Jetzt stattfindet, ist der Lebenssinn wie „ein roter Faden, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und dem wir in die Zukunft folgen können“, so die Wissenschaftsjournalistin Ute Eberle in ihrem lesenswerten Artikel „Die gefährliche Frage nach dem Sinn“.
Lebenssinn fällt einem nicht in den Schoß, sondern man muss sich auf den Weg machen, um hörend zu werden für das, was bei mir Resonanz findet und sich daraus entwickelt. Das ist nicht immer bequem und auch gefährlich. Was ist, wenn sich der Sinn nicht sofort erschließt? Sinn kann man nicht eben „einfach mal machen“, er ist ein Weg und theologisch gesprochen oft „eine Gnade“. Etwas, das mir geschenkt wird und mich dann – und das ist das Besondere – nicht mehr aufhält, mich für das einzusetzen, was mir wichtig ist. Etwas, das mich buchstäblich beflügelt, über mich hinauszuwachsen.
In den kommenden Monaten möchten wir Sie mit den unterschiedlichen Angeboten des Saisonthemas bestärken, sich mutig den Fragen zu stellen: Was ist mir letztlich wichtig? Wofür möchte ich meine Zeit einsetzen? Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Wir bieten: die dreiteilige Workshop-Reihe QUO VADIS. Sinn suchen. Orientierung finden, die Vortragsreihe ZEITANSAGEN für neue Denkansätze in krisenhaften Zeiten, die Online-Abendreihe Leuchttürme, um wertvolle Richtmarken auf dem eigenen Lebensweg zu erkennen und noch einiges mehr.
Mögen damit zu Beginn des Jahres weiter Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft wachsen, damit wir die wirklich großen Aufgaben unseres Lebens und unserer Gesellschaft meistern können.
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Text: Dr. Claudia Pfrang
Aufzeichnung der Veranstaltung am 25. Januar 2023 im Jüdischen Museum München. Eine Veranstaltung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V in Kooperation mit der Evangelischen Stadtakademie, der Liberalen Jüdischen Gemeinde München Beth Shalom, der Europäischen Janusz Korczak Akademie, der Domberg Akademie und dem Jüdischen Museum München.
Sinn suchen. Macht das Sinn? fragen wir in der neuen Ausgabe des DA-Magazins. Außerdem teilen wir auf den Themenseiten wie immer spannende Berichte, Meinungen und Ausblicke unseres Bildungsteams und stellen Ihnen das aktuelle Programm der Akademie im Frühjahr vor. Digital oder per Post in Ihren Briefkasten!