Dr. Claudia Pfrang erlebt in der Adventszeit eine Bandbreite an Emotionen, die viele Menschen während dieser Zeit und darüber hinaus erfahren. Der Advent ist eine Zeit, die oft von starken Gefühlen wie Sehnsucht nach Trost und einem Sinn für Gemeinschaft geprägt ist. Es ist eine große Herausforderung, mit Ängsten, Wut und Ohnmacht umzugehen, ebenso wie die Bedeutung, Raum für diese Emotionen zu schaffen, um sie anzuerkennen und zu verarbeiten.
Es beginnt die Zeit der großen Gefühle. Spätestens wenn die ersten Weihnachtslieder im Radio erklingen und die Schneeflocken tanzen, steigen sie auf. In den letzten Tagen berührt mich wieder neu das BR-Sternstunden-Lied „Ich wünsch dir Sternstunden“: Ich denke an all die Menschen, die krank sind, Schicksalsschläge zu verkraften haben, die Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten. Die Sehnsucht nach einer „heilen Welt“ stellt sich ein.
Aber ich erlebe in diesen Zeiten noch andere große Gefühle, die mir Sorge bereiten und denen ich nur allzu oft hilflos gegenüberstehe: Immer mehr greifen Angst, Wut und sogar Hass um sich. Da ist die Angst um die eigene Zukunft, das Gefühl, der Zukunft durch das unverantwortliche Verhalten der vorhergehenden Generationen beraubt worden zu sein, die steigende Angst um den Job, vor den steigenden Lebenshaltungskosten. Andere treibt die Wut auf „Die-da-oben“, das Gefühl, vielen Entwicklungen ohnmächtig gegenüberzustehen. Und dann ist da der Hass, der um sich greift, Hass in Form von Antisemitismus und Rassismus.
All das sind starke Gefühle, die uns immer weiter voneinander entfernen, ja trennen. Mit Sorge frage ich mich: Wie schaffen wir es, wieder ins Gespräch zu kommen, Leid und Freud miteinander zu teilen, unsere verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen anzuerkennen und ins Gespräch zu kommen? Sicher muss der Staat für mehr soziale Gerechtigkeit und für Chancengleichheit sorgen. Und gleichzeitig geht es dabei auch um den Umgang mit Frustrationen und Ohnmacht, die häufig in Wut umschlagen. Wo haben Menschen Räume, die persönlichen und gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen auszusprechen? Was hilft Menschen in unserer von Erfolg und Leistung geprägten Welt, Scheitern in das Leben zu integrieren? Und nicht zuletzt: Wie schaffen wir es zu trauern, zu trauern um Menschen, aber auch zu trauern um eine scheinbar jetzt schon verloren gegangene Zukunft?
Das sind große Fragen, die in unserem Leben kaum Raum bekommen. Dazu braucht es vor allem eines: Menschen, die da sind, Menschen, die erst mal die Erfahrungen, die Argumente und das Leid der anderen wahrnehmen. Die das Leid mit mir teilen, die fühlend und denkend darauf reagieren, die es mir erlauben, wieder eine andere Sicht darauf zu bekommen, mich und andere besser einzuschätzen, zu verstehen und zu akzeptieren.
Immer wieder erfahre ich selbst, wie es hilft, seine Gefühle zu zeigen, zu klagen und zu weinen. Aber dazu braucht es einen geschützten Raum. Die vertraute Person, die sich allen Frust und alles Leid anhört, die hilft Gefühle zuzulassen, wieder Abstand zu gewinnen, den Kopf einzuschalten und eine andere Perspektive einzunehmen – bildlich gesprochen wieder ein Licht im Dunkeln zu entdecken.
Angst
Wut
Ohnmacht
Klagen
Raum geben
Tränen
auffangen
Trauern zulassen
Trösten nicht vertrösten
Einfach da sein
wie Gott
CLAUDIA PFRANG
Vielleicht ist gerade dieser Advent die Zeit, sich selbst diesen dunklen Gefühlen zu stellen. Aber auch die anderer wahrzunehmen, zuzuhören und zu trösten - nicht zu vertrösten. Raum zu lassen für die Klage, die „ohnmächtige Wut in gerechten Zorn verwandeln [kann], der mich treibt, den gegenwärtigen Zustand nicht mehr hinzunehmen“, wie es Melanie Wolfers beschreibt. Der Advent mit seinen dunklen Tagen und den Texten vom Dunkel und Licht bietet eine Chance, der Sehnsucht nach Licht in all den Ohnmachtserfahrungen auf die Spur zu kommen.
In unserer christlichen Tradition haben wir einen wunderbaren Schatz: die Klagelieder. Sie machen ein Drittel der Psalmen aus und haben vielen Vormüttern und Vorvätern im Glauben geholfen und Trost gegeben. Menschen treten Gott gegenüber, sie klagen Gott an und klagen seine Hilfe ein. Sie geben ihren Leid- und Ohnmachtserfahrungen einen Ausdruck. „Herr, du Gott meines Heils, zu dir schreie ich am Tag und bei Nacht. Lass mein Gebet zu dir dringen, wende dein Ohr meinem Flehen zu!“ (Psalm 88,1-2)
Lassen wir die Not der Menschen um uns an unser Ohr dringen. Nehmen wir uns trotz aller Hektik des Advents Zeit füreinander. Geben wir der Klage Raum. Helfen wir und tragen dazu bei, die Wut in gerechten Zorn zu verwandeln, der uns antreibt, die Welt im Kleinen und Großen zu verändern. Dann werden wir, so mein Vertrauen, Sternstunden erleben können.
Ihre Claudia Pfrang