Mentale Gesundheit gilt als Bildungsherausforderung unserer Zeit. Doch was bedeutet es, mental gesund zu sein? Wie können wir gesünder mit uns selbst und miteinander umgehen, gut in Beziehung und Austausch sein, konstruktiv im Konflikt und im Gespräch bleiben? Und was kann Bildung dazu beitragen?
Schließlich gelten Bildung und Gesundheit als ganz getrennte Bereiche. Dient Bildung vermeintlich nur der Formung des Geistes, widmet sich Gesundheit dem körperlichen, neuerdings auch seelischem Wohlbefinden. Nun belegt vor allem neurobiologische Forschung, wie eng leibliche, seelische und geistige Gesundheit zusammenhängen – und diese allesamt abhängig sind von sozialer Teilhabe und Beziehungs-Faktoren, erst recht von Bildungswegen und verwehrten Bildungszugängen. Doch rückt Mentale Gesundheit erst jetzt – dank zunehmendem Leidensdruck – in den Fokus gesellschaftlicher Debatten.
Der Hype um das Thema ist bislang stark vom negativen Fokus motiviert. Es geht um die Zunahme psychischer und psychosomatischer Krankheiten, um oft fehlende Kompetenzen im Umgang mit Angst, Scham und Schuld oder um den Mangel an fachkundiger Unterstützung in seelischer Not und Überforderung. Was „mental gesund“ bedeutet, wird meist negativ definiert als Freisein von Ängsten, Scham und negativem Stress. Der Begriff wird auch gern zweideutig gebraucht: zuweilen einfach synonym zu psychisch gesund, neuerdings steht er aber auch für ein umfassenderes Konzept von Mensch und Gesundheit. So formuliert in den Grundsatzforderungen der EU-Kommission und in forschungsfundierten Stellungnahmen der Weltgesundheitsorganisation.
Mental gesund zu sein bedeutet demnach mehr als psychisch gesund, wo die Trennung von Seele und Körper noch selbstverständlich mitgesagt ist und die fragwürdige Wertung beider Ebenen noch mitgedacht wird in dem Begriff. Während körperliche Beschwerden und physische Krankheiten sozial akzeptiert sind, galten seelische Belastungen oder „Geistes-Krankheiten“ lange als Scham besetzt und tabuisiert. Der neue Begriff „Mentale Gesundheit“ tritt an mit dem Anspruch, den Menschen sowohl als körperliches und seelisches, geistig wie sozial bestimmtes Wesen zu verstehen und ihn in seiner Vielfalt wie wechselseitigen Bezügen zu seiner Umwelt zu sehen.
Die aktuellen Krisen schüren Ängste, beschweren die Seele und entziehen sich oft genug dem Verstehen. Sinn und Orientierung im Persönlichen wie Politischen gehen zunehmend verloren, ebenso das Vertrauen und die Verbundenheit zu sich selbst und anderen. Das betrifft immer mehr Menschen, vor allem aber auch Kinder und Jugendliche. Aktuellen Zahlen zufolge leiden 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen zumindest phasenweise an Despression, Angst- und Essstörungen. Klimakrise und Kriege belasten gemäß neuesten Umfragen die mentale Gesundheit von außen, im Sozialen sind es „toxische Beziehungen“ und zu viel „Mental Load“ und auf personaler Ebene ist es „Ghosten“ oder „Bodyshaming“.
Auf allen Ebenen geht es um Abwertung und Überforderung, Ignoranz und Beschämung. Der Ton wird allerorten rauer. Denn Hass und (verbale) Gewalt, Ängste und Ausgrenzung sind Teil unseres Alltags, nicht nur im Netz. Das wirkt sich negativ auf die mentale Gesundheit und persönliche Entwicklung aus, greift Menschen zuinnerst an und lässt sie sozial verstummen. Bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt, verwehrt Zugänge zu Bildung und sozialer Teilhabe und bestimmt zunehmend den Ton in öffentlichen Debatten. „Wir denken, fühlen und streiten anders, seit wir dauervernetzt und überinformiert sind.“ – sagt Eva Menasse in ihrem Essay „Alles und nichts sagen“, der 2023 erschien.
Das gefährdet die Demokratie und den Frieden im Kern. Stellt das Gesundheits- und Bildungssystem vor neue Herausforderungen. Man versucht, Auslöser und Gründe und einen besseren Umgang damit zu finden. Aber strukturelle Bedingungen – wie der Mangel an Zeit, Sinn und echtem Bezug – stehen dem entgegen. Zunehmende Bürokratie, kleinteilige Dokumentations- und Koordinationsaufgaben bestimmen die Arbeitswelt und Bildungspraxis. Diese oft als sinnfrei empfundenen Aufgaben gehen einher mit zu wenig Zeit für den hörenden Bezug zu sich selbst und den geteilten Blick in Beziehungen mit anderen. Sich dafür Raum zu geben, sich für Stille, Ruhe und Kreativität bewusst Zeit zu nehmen, tut nur, wer darauf vertraut, dass solche Zeit nicht leer und unnütz vertan ist, sondern ein wertvoller Schritt und unumgängliche Übung zum Gesundsein und Ganzwerden ist.
„Mental Load“ – das Gegenteil von „Leben in Fülle“ (Joh. 10)
Darauf zu vertrauen, fällt heute aber schwer. Die selbstverständlich gewordene Fülle an Mails und Nachrichten, die mediale Informationsflut und kommunikative Beanspruchung, sorgen für immer mehr fehlende Zeit und mentale Überlastung. Zugleich suggeriert das eine stete Fülle der Zeit, auch wenn diese sich zunehmend entleert anfühlt. Gehetzt und zeitlich eng getaktet, verlieren wir leicht den Sinn für Gewichtung und Priorität, das Gespür für uns selbst und andere im ständigen Zuviel.
Dafür steht der Begriff „Mental Load“, der neuerdings in aller Munde und die Last der unsichtbaren Aufgaben bedeutet, für die es kaum Anerkennung noch soziale Resonanz gibt: ein Preis der Digitalisierung und zunehmenden Bürokratisierung des Alltags. Die dadurch zunehmende Inhaltsleere und Bezugslosigkeit kosten uns Halt und Orientierung. Dann bleibt wenig Raum für den Blick auf das, was begegnet, geschweige denn für das menschliche Miteinander, für echte Begegnung und Gespräch. Die innere Unruhe, die daraus folgt, nimmt uns den Atem – geistig, seelisch wie auf körperlicher Ebene: nicht zufällig sind Ängste und Panikattacken, Burnout und depressive Verstimmungen die Symptome der Zeit.
Zu wenig im Blick ist bislang die Zeit als zentrale Ressource – und als Ort der noch zu wenig beachteten Verschwendung genau dieser Ressourcen. Zeit ist zwar für jeden Mensch das wertvollste Gut im Leben, deren Verfügbarkeit ist aber höchst ungleich verteilt, wie Teresa Bücker in ihrem Buch „Alle_Zeit“ (2022) eindrucksvoll zeigt: ein Plädoyer für eine neue Zeitkultur, für mehr soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn die Unverfügbarkeit über die eigene Zeit spricht Menschen die Selbstbestimmung ab und nimmt letztlich die Würde. Untergräbt das Sinngefühl und entwertet das Leben.
„Mental load“ ist folglich das Gegenteil von seelischer Fülle und Lebendigkeit des Geistes. Es bedeutet nicht nur eine quantitative Überforderung im Kleinteiligen, sondern auch eine ständig zerhackte Zeit. So verfällt man zunehmend der „Verzweiflung der Endlichkeit“, die Sören Kierkegaard bereits 1848 in seiner philosophischen Abhandlung „Die Krankheit zum Tode“ beschrieb: „dass man ganz endlich und (statt ein Selbst) eine Zahl, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei geworden ist“.
Statt sich hinreichend aufmerksam zu sich selbst und anderen verhalten zu können, zu dem was wirklich bewegt und begegnet in der dafür nötigen Zeit, so dass der Augenblick Horizont und Weite gewinnt, klebt der Blick eng getaktet nur auf dem nächsten Schritt und „to do“. Mental gesund zu bleiben, verlangt aber reflexive (Atem-)Pausen und einen respektvollen Umgang mit der Eigenzeit der Dinge, erst recht im zwischenmenschlichen Bezug. Ein wacher und wahrnehmender Blick wie offenes Ohr und Herz brauchen aber Geduld und Dauer.
Gerade sozial und pädagogisch Tätige tragen schwer daran, dass ihre eigentliche Arbeit mit Menschen, dass Gespräch und Begegnung zunehmend zu kurz kommen. Stattdessen verausgaben sie sich an „fake work“ (Brent D. Peterson), an Tätigkeiten zweiter Ordnung, die nur der Verwaltung und Dokumentation des eigentlichen Tuns dienen – letztlich dem Kontroll- und Überwachungsbedürfnis der Neuzeit geschuldet sind. Nicht den eigentlichen Zwecken dienen, nur Mittel sind zum Erfassen der Wirklichkeit, die sich im Letzten nicht erfassen lässt.
Was macht uns aber krank, in einer Welt, in der wir scheinbar (noch) alles haben? Albrecht Dürer hat mit seinem Meisterstich „Melencolia I“ (1514) das Grundgefühl unserer Zeit bereits zu Beginn der Neuzeit ins Bild gebracht. Am Ende des Mittelalters, in dem die Melancholie noch als Laster und Fluch galt, setzt er ihr ein ambivalentes Denkmal: Er zeigt sie als Kehrseite einer um Perfektion und Berechnung, um vollkommene Erkenntnis und Weltgestaltung ringende, zugleich scheiternde Figur.
Das Menschenbild der Neuzeit und unser Selbstverständnis von Bildung ist hier ikonografisch grundgelegt. Hier kommt nicht nur das autonome Subjekt ins Bild, das sich selbstermächtigt im technischen und geistigen Aufbruch neu verorten muss in einer Welt, die nun vermeintlich ohne Gott und außerhalb der Natur. Ebenso ins Bild treten hier die Pathologien der Jetzt-Zeit. Bis heute gilt Dürers Stich als emblematischer Ausdruck für das existenzielle Befinden der Melancholie. Es bringt die Stagnation und das Grundgefühl von Sinnverlust, von ausweglos scheinender Bezugslosigkeit und innerer Leere unnachahmlich ins Bild.
Mentale Gesundheit gilt heute als Bildungsherausforderung der Zeit. Gemeint sind die signifikant zunehmenden psychischen Belastungen und mentalen Überforderungssymptome, die sich in Burnout, Depression und Sinnkrisen äußern. Trotz unserer Erkenntnisse, Wissenszugänge und theoretischen Handlungs-Möglichkeiten im Überfluss, geht es uns so, wie schon Dürer während seines Ringens am Werk schrieb: „Unser blöd Gemüt kann zur Vollkommenheit nicht kommen“. Daraus spricht Trotz und Enttäuschung, dass das Heilsversprechen der Neuzeit – die vollständige Erkenntnis, das Ringen um und der Glaube an Perfektion und Berechnung von Welt – seelisch nicht trägt, uns weder heil noch ganz werden lässt.
Was fehlt uns aber? Was nimmt uns alle Kraft? Woher dieser Grundton der Melancholie, diese „maßlose Bitternis der Seele“ (Hugo von Sankt Viktor, 1413)?
Die Antwort scheint auch schon im Bild. Diese mit körperlich großer Kraft und geistig mächtigen Flügeln, also mit allen Tools und Skills ausgestattete Figur, ist allein im Weltenmeer, sitzt in sich gekehrt und lustlos bis resigniert da, als ginge es um nichts. Ohne einen dialogischen Bezug zu Umwelt und ohne Gegenüber macht der Reichtum der Mittel keinen Sinn und Zweck. Echte Zwecke und tragende Ziele ergeben sich nur im Miteinander und Füreinander.
Die Seele als Gesamtheit dessen, was das Fühlen und Wahrnehmen, Empfinden und Denken eines Menschen ausmacht, ist in heutiger Sprache ein integratives Prinzip: ihr Gesunden bemisst sich an der Lebendigkeit wie der Verbundenheit mit sich selbst und anderen. Sofern das Zusammenspiel von Körper und Geist gelingt, ist der Mensch beseelt. Sofern wir in wechselseitig responsiven Bezug zu uns selbst und anderen stehen, ist die Welt und wird die Gesellschaft beseelt. Das setzt jedoch Vertrauen voraus – in uns selbst und in andere, erst recht in die Eigendynamik des Leben und ins Geschehen der Welt, auch wo wir es nicht steuern und unter Kontrolle haben können.
Nur seelisch und geistig in wechselseitigem Austausch und responsiv verbunden, wachsen wir in Vertrauen, weben gemeinsam am „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“, wie Hannah Arendt die politische Dynamik und das soziale Miteinander beschreibt. Jede/r einzelne, so formuliert sie in ihrem Hauptwerk Vita activa (1958), schlägt seinen Faden in dieses Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten, und webt damit von Augenblick zu Augenblick dieses Gewebe geschichtlich mit – mit seinen und ihren Geschichten. Welches Muster es ergibt, haben wir aber nicht in der Hand. Geschweige denn, können wir die Welt machen, wie sie uns gefällt oder das große Muster der Geschichte im Ganzen verstehen.
Das sei aber kein Anlass zu Klage oder Resignation, im Gegenteil. Denn wenn sich eine von Verantwortung und Vertrauen getragene Haltung zur Zukunft bilden kann, gesunden wir: „Dass Menschen nicht fähig sind, sich selbst vollkommen zu vertrauen, ist der Preis, mit dem sie dafür zahlen, dass sie frei sind; und dass sie nicht Herr bleiben über das, was sie tun, dass sie die Folgen nicht kennen und sich auf die Zukunft nicht verlassen können, ist der Preis, den sie dafür zahlen, dass sie mit anderen ihresgleichen zusammen die Welt bewohnen, das ist der Preis mit anderen Worten: für die Freude, nicht allein zu sein, und für die Gewissheit, dass das Leben mehr ist als nur ein Traum.“ (Hannah Arendt)
Diese Freude wird uns aber zu selten zuteil, wenn jedes zwischenmenschliche Brauchen als Abhängigkeit verstanden wird und als Einschränkung der Autonomie. Das führt dazu, dass man darauf eben nicht mehr vertrauen kann. Denn Vertrauen wächst langsam und nur durch positive Resonanz-Erfahrungen mit anderen. Wo das fehlt oder abhandenkommt, wo die Bezugsfäden reißen, hat das psychische Belastungen oder mentale Überforderung zur Folge: unsere derzeitige Antwort auf globale Unsicherheit, persönliche Umbrüche und politischen Wandel, wie es scheint. Doch das Diktat der Angst und Abschottung wirkt sich auf das Wahlverhalten aus und bestimmt die Haltung zur Zukunft.
Mentale Gesundheit ist daher zunehmend sozial relevant wie politisch wirksam, und gilt zurecht als Bildungsherausforderung der Zeit.
„Gesund“ sein meint also (wie die EU-Kommission es zum Beispiel beschreibt), einen Zustand der mentalen Balance und psychischen Stabilität, der sich als subjektives Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit äußert und auf gesellschaftlicher Ebene zu wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit führt. Es umfasst innere Aspekte wie Selbstwirksamkeit und -akzeptanz, ebenso soziale Aspekte der Beziehungsqualität und äußeren Leistungsfähigkeit. Maßgeblich für mentale Gesundheit sei aber, ob man offen und wohlwollend, „in Vertrauen und Verlässlichkeit“, mit Aufmerksamkeit und hinreichend Zeit, für sich und andere da sein und die Lebensherausforderungen und Konflikte bewältigen kann.
Hier zeigt sich, was interdisziplinäre Forschung auch bezeugt: Dass die mentale Gesundheit von Einzelnen (wie die einer Gruppe oder von Familien) mit der Qualität des Selbst-Verhältnisses und der sozialen Bezüge steht und fällt. Je nachdem, wie wir mit uns selbst und anderen umgehen, aus welcher Haltung und Motiven wir uns begegnen, wie sehr es uns gelingt, uns in Vielfalt und im Hinblick auf grundlegende Gemeinsamkeiten im geteilten Blick wahrzunehmen, desto mehr sind oder bleiben wir mental gesund.
Das erfordert aber, sich Fragen zu stellen, wie folgt – sei es „im inneren Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon) oder im Dialog des Denkens:
- Wie gehen wir miteinander um? Aufmerksam und zuhörend, als wäre jeder Mensch es wert gehört und gesehen zu werden – oder gehen wir ignorant und (ab-)wertend miteinander um, als ginge es immer nur darum, sich selbst oder die eigene Meinung zu behaupten und jede Antwort vor der Frage zu wissen?
- Aus welcher Haltung und Motiven begegnen wir uns? Wollen wir verstehen vor allem Urteil, also vorm Bewerten und Abwertung? Sind wir der Verbundenheit als Mensch unter Menschen dabei eingedenk und „neigen wir das Ohr unseres Herzens“ (Prolog zu Regel des Hl. Benedikt) wirklich dem andern zu?
- Wie gut gelingt es uns, uns selbst und andere in Vielfalt wahr- und anzunehmen? Oder verfestigen wir nur die jeweiligen Schubladen durch immer gleiche Identifikationen und Zuschreibungen, ohne wirklich hinzuschauen? Ohne ernsthaft nachzufragen, geschweige denn uns darin zu üben, die Dinge in wechselnden Perspektiven und aus der Sicht des jeweils anderen mitzufühlen, in einer qualitativen Weise, die Edith Stein „Einfühlung“ oder „Innewohnen“ nennt im Blick des andern.
Daran bemisst sich sozialer Frieden- und Konfliktfähigkeit, erst recht „der Dialog des Denkens“ und die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln: „Der Dialog des Denkens. Wo er fehlt, gibt es keine Tiefe mehr, sondern Verflachung. Das gesamte öffentliche Leben unserer Zeit drängt auf Verflachung. Aus dieser Verflachung kommt das Unheil - und nicht aus der Tiefe, die wir verloren haben.“ (Hannah Arendt)
Nur in solchem Dialog des Denkens gelingt es, eigene Bedürfnisse und Wahrnehmung, Befinden und Wünsche ausdrücken zu können, sich emotional zuzumuten und mental verständlich machen zu können: ein wesentlicher Faktor mentaler Gesundheit. Dann bilden sich „gesunde“ Beziehungen als eigenständige Räume des Miteinanders in geteilter Aufmerksamkeit und wechselseitiger Anerkennung. Daraus erwächst Vertrauen und Verlässlichkeit, im besten Fall gelingt so gemeinsames Wachsen und die Möglichkeit zum Austrag von Konflikten.
Eine „gesunde“ Beziehung bemisst sich daran, ob die Beteiligten sowohl in ihrer persönlichen Entfaltung bestärkt werden (immer mehr sie selbst sein können in der Gegenwart des Andern), zugleich leichter und lebendiger in Bewegung und in ihre Kraft kommen im Leben und in der Welt. Das gilt für kollegiale Arbeitsbeziehungen in Teams genauso wie für Freundschaften oder in der Liebe.
Die Philosophin Bini Adamiczek plädiert dafür, „gesellschaftliche Beziehungsweisen der Solidarität“ zu bilden – im Gegensatz zu Beziehungsweisen, die mit Beschämen und Beschuldigen agieren, durch Angst und Diskriminierung kränken und ausgrenzen.
Wie können wir persönlich und politisch „anständig“ miteinander umgehen und sowohl den Selbstbezug wie Beziehungen „gesünder“ leben und gestalten? Anstand und Konfliktfähigkeit schließen sich nicht aus, sondern gerade ein. Bezugsqualität beinhaltet vor allem die Fähigkeit, wirklich zuhören und fragen zu können. Krisen und Konflikte austragen zu können. Mit Interesse und Wohlwollen die anderen wirklich hören, verstehen und ihre Sicht der Dinge wissen zu wollen. Eingedenk der Tatsache, dass wir einander brauchen und uns dadurch viel geben können, weil wir die Fragen der Zeit niemals allein lösen können, aber gemeinsam lösen müssen.
Wie kann Bildung aber im Vertrauen auf Gespräch und Resonanz-Erfahrung stärken? Ob wir darauf Antwort finden im Denken wie im Handeln, ist entscheidend für die Frage der mentalen Gesundheit in Zukunft. Ebenso, ob wir Bildung – unabhängig von Inhalten, die vermittelt werden – in ihrer Form begreifen als Eröffnung eines Raums, in dem Zuhören, Beziehungsfähigkeit und Anstand geübt werden können.
Denn es gilt, ‚gesunde‘ Angst oder berechtigte Sorge von lähmenden und krankmachenden Ängsten zu unterscheiden. Scham als soziales Sensorium für eigenen Wert und Grenze zu würdigen, aber Beschämung und Ausgrenzung sofort zu ahnden – auf persönlicher Ebene wie im sozialen und politischen Miteinander. Es gilt unsere Ängste bei uns selbst und anderen – mit Geduld und Zeit – wahr und ernst zu nehmen und trotzdem (oder gerade deswegen) einen guten Umgang mit Umbruch und Unsicherheit in einer Welt im Wandel zu finden.
Um gemeinsame Wege auszuloten im Realen, jenseits einer das Denken lähmenden und das Handeln vermeidenden Angst, die letztlich der Illusion von Kontrolle und Berechnung von Selbst und Welt den Vorrang gibt. Stattdessen, wie die Philosophin Simone Weil sagt: „Ohne Gier und Sehnsucht, ohne Erwartung und Berechnung – geduldig sehen und ‚lesen lernen‘, was wirklich begegnet. Nicht deuten, nichts hineinlesen in die Dinge, sondern so lange hinschauen, bis das Licht hervorbricht.“ (1942)
Nur im Vertrauen auf dieses Licht, das jeder Seele innewohnt, können wir angstfreier antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Lernen zu wachsen in der Verbundenheit mit allem Lebendigen und werden hörender für das unerschöpfliche Geheimnis des Getragen-seins vom Leben selbst und seiner spirituellen, letztlich religiösen Dimension. Das kann auf personaler und sozialer Ebene den Boden bereiten für das Ziel einer „anständigen und nicht-demütigenden Gesellschaft“, nach dem Avishai Margalit die Voraussetzung für sozialen und politischen Frieden.
Text: Dr. Karin Hutflötz
Weiterführende Literatur