Im Wort Spiritualität steckt das lateinische Wort spiritus, was übersetzt „Hauch“, „Geist“, „Atem“ bedeutet. Der Atem kommt und geht, ohne dass wir ihn oft bewusst wahrnehmen. Der Atem durchströmt uns, er belebt uns. Ohne Atem hören wir auf zu leben. Wenn wir den Atem aufmerksam wahrnehmen, können wir zur Ruhe kommen – äußerlich und innerlich. Dies stärkt nicht zuletzt für Herausforderungen im Alltag.
Spiritualität zu begreifen als das, was Atem gibt, was leben lässt, was mich aufmerksam für mich und mein Leben sein lässt, ist eine Spur, um dem nahezukommen, was Spiritualität existenziell bedeuten mag: sich selbst zu spüren und sich auch mit dem zu verbinden, was uns wie die Luft umgibt, mit dem, was über uns hinausgeht. Gleichzeitig lebe ich aus der Spiritualität, ohne dass ich oft darüber nachdenke. Wie jeder Mensch seinen eigenen Atem-Rhythmus hat, lebt auch jede:r die eigene Spiritualität, die sich entwickelt, die sich im Laufe des Lebens aber auch wandeln kann. Wir lernen den Dingen nach und nach eine Bedeutung zu geben. Als Menschen sind wir stets auf der Suche nach Sinn. Es gibt eine Vielfalt spiritueller Konzepte, ganz eigene Praktiken und Zugänge zu Spiritualität. Sie sind abhängig von Kultur und Religion, Alter und Lebenssituation, Persönlichkeit und Charakter. Auch innerhalb ein und derselben Religionsgemeinschaft gibt es Unterschiede. Wir kennen in der katholischen Tradition zum Beispiel die ignatianische, franziskanische oder benediktinische Spiritualität. Wir reden von Frauen und Männerspiritualität, von Schöpfungsspiritualität. In unterschiedchen Frömmigkeitspraktiken werden auch unterschiedliche Spiritualitäten sichtbar. Gehörte das Rosenkranzgebet für die ältere Generation noch zum unverzichtbaren Bestandteil des Gebetslebens, so ist es für die jüngere Generation eher das freie Gebet, das freie Sich-Hinwenden zu Gott, zum Beispiel in der Naturerfahrung. In den individuellen Ausdrucksformen der Spiritualität spielen vielfältige Symbole und Rituale eine wichtige Rolle. Durch sie wird das Unaussprechbare aussprechbar, wird das Unbegehbare begehbar.
Spiritualität ist daher immer vielfältig, nie eindimensional zu verstehen und zu begreifen. Dies ist zugleich eine Ressource für die Suche nach einer persönlich passenden spirituellen Lebensform. Spiritualität ist
nicht abstrakt, sondern hat Folgen für unser Leben und unsere Beziehungen. Sie kann auch ambivalent wirken und mit Phasen der Erfüllung und des Zweifelns, mit Phasen des Beschenktwerdens, aber auch des Verlusts und mit Grenzerfahrungen einhergehen. So ist immer dann Vorsicht geboten, wenn der Begriff einseitig nur positiv aufgeladen ist. Wo der Anspruch erhoben wird, dass es nur eine einzige, wahre Spiritualität gibt, besteht die Gefahr, dass sie toxisch wird.
Spiritualität sollte dazu dienen, dass Menschen sich – wie beim Atmen – in Austausch und Verbindung zu etwas Größerem erfahren, dadurch in Verbundenheit zu sich selbst kommen und sich in ihrem Leben entfalten können. Am Bild des Atmens wird deutlich: Wenn die Luft schlecht oder gar verpestet ist, wenn Menschen die Luft zum Atmen genommen wird, dann hat das schlimme Folgen. Zu viele Menschen haben das im Raum der Kirche erlebt und spirituellen oder geistlichen Missbrauch erfahren. Spiritueller Missbrauch findet nicht nur in geistlichen Gemeinschaften statt, sondern kann genauso in der Beichte, bei geistlicher Begleitung oder in Seelsorgegesprächen, in Verbänden, in der Gemeinde oder Familie stattfinden. Oft sind Menschen mit dem Anspruch aufgetreten, die Wahrheit zu kennen, einem göttlichen Auftrag zu folgen und zu wissen, was gut für andere sei. Sie geben meist einfache Antworten auf komplexe Fragen, die nicht selten die Entlastung einer belasteten Person versprechen. Die Freiheit der Person wird untergraben und ihr Vertrauen missbraucht.
Wenn theologische Aussagen und kirchliche Rituale wie auch Gebetspraktiken dazu benutzt werden, um anderen den Atem zu nehmen, um sie klein zu halten, zu instrumentalisieren oder zu demütigen, dann wird
Spiritualität toxisch, dann werden Menschen missbraucht. Spiritueller Missbrauch kann also auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. So können Rituale und Praktiken zu anderen Zwecken benutzt werden
als eigentlich vorgesehen. Menschen werden missbraucht, um sich selbst größer zu machen, Gott wird missbraucht, wenn in seinem Namen Macht ausgeübt wird. Doris Reisinger, die unter ihrem Geburtsnamen Wagner 2019 das Buch Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche (Verlag Herder) veröffentlicht hat, identifiziert drei Formen des spirituellen Missbrauchs: spirituelle Vernachlässigung, spirituelle Manipulation und spirituelle Gewalt. Menschen bekommen nicht das, was sie spirituell brauchen, oder sie werden daran gehindert, sich alternative Ausdrucksformen zu suchen. Menschen werden manipuliert, indem sie zu bestimmten Handlungen
oder Lebensweisen gedrängt werden. Mit religiösen Werten und Konzepten wird Druck ausgeübt.
Hannah A. Schulz, Therapeutin und Autorin zum Thema, hat den geistlichen Missbrauch in einem Vortrag bei der Domberg-Akademie im Anschluss an Klaus Mertes SJ als Verstoß gegen das erste Gebot bezeichnet (zu sehen auf dem YouTube-Kanal der Domberg-Akademie). Hier werde der Name Gottes missbraucht, um über andere Macht auszuüben. Was meint sie da mit? Gott wirkt und offenbart sich heute noch, aber immer indirekt. Es ist immer nur ein Erahnen durch Spuren, und es bleibt zwischen Gott und den Menschen ein Ort der Freiheit, der manchmal einer des Zweifels ist. Aber immer bleibt eine Leerstelle zwischen Gott und dem Menschen. Gefährlich wird es dann, wenn andere Menschen diese Leerstelle mit ihren Gottesbildern, Überzeugungen, Gebetsweisen füllen und man selbst Gott nicht mehr auf seine eigene Weise entdecken kann. Wenn sie die Grenzen des persönlichen Raums der Freiheit übertreten und versuchen, ihn zu füllen, setzen sie sich an die Stelle Gottes und beschädigen die Freiheit des Menschen. Das ist besonders im christlichen Kontext perfide, der von einer Frohen Botschaft lebt, die den Menschen in Freiheit wachsen lässt. Die Alarmglocken sollten klingeln, wenn es Menschen nur um sich selbst und nicht um das Wachsen anderer geht. Wenn Dinge verlangt werden, die eher der eigenen Selbstinszenierung dienen. Wenn die Bedürfnisse der Einzelnen für Ideale geopfert werden. All das weist auf toxische Systeme hin, die häufig das existenzielle Bedürfnis der Person nach dem, was im Leben trägt, ausnutzen. Diese Person befindet sich dann nicht in einem Netz, das trägt, sondern sie gefangen hält. Dies hat fatale Folgen oft mit lebenslangen, tiefen Verwundungen und körperlichen Schädigungen. Spiritueller Missbrauch ist eine Verletzung der Würde und Freiheit der Person, des spirituellen Selbstbestimmungsrechts. Spirituell selbstbestimmt lebt, wer die eigenen spirituellen Ressourcen frei wählen und sie so verwenden kann, wie die Person will. Spirituell handlungsfähig ist die Person, die alle nötigen spirituellen Ressourcen zur Verfügung hat. Wer dies nicht ist, ist in spiritueller Not, betont Doris Reisinger. Spirituelle Selbstbestimmung heißt: Ich folge meinem Gewissen und treffe die Entscheidungen frei, ich reflektiere meinen Glauben und lebe ihn so, wie es in meiner Lebenssituation passt, denn es gibt eine Vielfalt von Spiritualitäten. Nicht jede passt zu mir. Gott passt in keinen Rahmen, und Gottesbilder verändern sich. Das gilt auch für meine Gottesbeziehung.
Hier gilt es, sich immer wieder zu fragen: Führt meine Spiritualität zu einem Leben, das mich wachsen lässt und mir hilft, mein Leben selbstbestimmt zu gestalten? Lasse ich anderen die Freiheit, so spirituell zu leben,
wie er oder sie es möchte? Kriterium muss immer sein, ob Spiritualität lebensdienlich ist und die Freiheit jeweils anderer Zugänge gelten lässt. Insofern muss Spiritualität auch rational verantwortet werden. Unsere Spiritualität entscheidet maßgeblich, wie wir mit dem Leben zurechtkommen. Sie ist „die Substanz unserer psychischen Widerstandsfähigkeit, die Nahrung unserer Gefühle und der Stoff, aus dem unsere
Kulturen und Religionen bestehen“, schreibt Doris Reisinger. Die für sich passende Spiritualität zu entdecken und zu entwickeln, ist ein individueller und lebenslanger Prozess – nicht abschließbar, machbar oder zu
beschleunigen. Dies verlangt von Seelsorger:innen, die Menschen geistlich begleiten, viel Rollenreflexion und eine unbedingte Anerkennung der spirituellen Selbstbestimmung. Wenn Menschen ihre Spiritualität leben, erweitern sie die Erde um den Himmel, betreten sie „den unantastbaren Raum“, wie Sophia Weixler ihn nennt, einen Raum, den nur sie betreten. Und dieser Raum sollte immer genau so bleiben: unantastbar.
Text: Dr. Claudia Pfrang, Direktorin