Was ist dein Privileg? Magdalena Falkenhahn, stellvertretende Direktorin und Referentin für (Inter-)Kulturelle Bildung, über Diskriminierung und Privilegien, Empowerment und Allyship.
Haltung zeigen! So lautete das Motto der Internationalen Wochen gegen Rassismus in diesem Jahr. Genau diese klare Haltung braucht es, denn: Nach wie vor machen nicht-weiße und nicht- europäische Menschen in unserem Land Erfahrungen von Rassismus. Sie gehören zur alltäglichen Lebenserfahrung vieler unserer Mitbürger:innen – im letzten Sommer auch von einer unserer Praktikantinnen bei der Domberg-Akademie. Sie wurde Opfer eines perfiden Rassismus-Bingos, bei dem Menschen über die sozialen Medien ermutigt wurden, Schwarze Menschen körperlich anzugreifen. Je stärker der Angriff, desto mehr Punkte gab es für den oder die Täter:in.
Einmal mehr wurde mir aufgrund dieser Erfahrung bewusst: Rassismus ist nach wie vor tief in unsere Gesellschaft eingeschrieben, und es ist die Aufgabe von uns allen, sich dem Kampf dagegen zu stellen. Das bedeutet auch: selbstkritisch auf die eigene Sozialisierung und als Institution auf die eigenen Strukturen zu blicken. Nur wenn wir Verantwortung übernehmen für die eigenen blinden Flecken, die eigenen Prägungen, können wir zu einer rassismuskritischen Gesellschaft werden.
Schwierig daran ist nur, dass wir – die weiße Mehrheitsgesellschaft hier in Deutschland – es nicht gewohnt sind, uns selbst zu hinterfragen. Dass die eigenen Denk- und Verhaltensweisen als „normal“ angesehen werden, ist eines von vielen weißen Privilegien.
Das Rolling Eyes Glossar, ein Projekt des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, präzisiert auf dem Weg zu einer diskriminierungssensiblen Sprache: „Die Möglichkeiten, Privilegien, Macht oder die Deutungshoheit zu besitzen und seine Realität selbst zu beschreiben, […] zeigt an, dass eine Person weiß ist.“
Der Ursprung dieser Vorherrschaft liegt im Zeitalter der Kolonialisierung des globalen Südens. Während in Europa die Losung „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ ausgerufen wurde, tobte in Afrika ein erbittertes Wettrennen um die territoriale Vorherrschaft. Um die damit einhergehende gewaltvolle Unterdrückung und massenhafte Ermordung der indigenen Bevölkerungen zu rechtfertigen, erfanden die Europäer Rassismus. Dabei teilten sie die Menschen auf den unterschiedlichen Erdteilen in verschiedene „Rassen“ ein, die in einer hierarchischen Ordnung zueinander standen.
An der Spitze dieser fiktiven Rassekonstruktion verorteten sich die Weißen: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. […] Die N**** sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften“, befand einst der Philosoph Immanuel Kant.
Diese Kategorisierung galt europaweit als unbestritten und schaffte damit eine Legitimation für die Gräueltaten im globalen Süden: Die Weißen hatten in dieser Logik die Pflicht und Bürde, die unzivilisierten Völker jenseits Europas zu beherrschen, um sie damit in die Freiheit zu führen.
Man könnte denken, dass wir das alles schon hinter uns gelassen haben. Leider ist dem nicht so, denn die vor über 500 Jahren erfundene Weltanschauung wirkt bis heute nach: Noch immer gilt auf der ganzen Welt weiß-Sein als Norm und zu erreichendes Ideal. Noch immer sind die stereotypen und vorurteilsbehafteten Bilder über den globalen Süden in den Köpfen der meisten Europäer:innen tief verankert. Die Folgen: Abwertung, Diskriminierung und im schlimmsten Fall körperliche und psychische Gewalt gegenüber Menschen, die nicht dem mittel- oder nordeuropäischen Erscheinungsbild entsprechen.
Unter weiß und Schwarz sind keine realen Hautfarben oder biologischen Eigenschaften zu verstehen. Die Begriffe beschreiben vielmehr eine politische Konstruktion der Vorherrschaft oder Benachteiligung und werden in diesem Text daher kursiv und klein (weiß) oder groß (Schwarz) geschrieben.
Laut der Fachstelle für Demokratie in München gaben 2021 in der Bevölkerungsumfrage 13 Prozent der Münchner:innen an, Opfer von rassistischer Diskriminierung geworden zu sein. Auch die Anschläge von Halle, Hanau und dem Olympia-Einkaufszentrum zeigen, welche Folgen menschenfeindliche Einstellungen in letzter Konsequenz haben können. Bei der Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft herrscht Konsens darüber, dass rechtsextremistische Gewalt abzulehnen ist. Schwieriger ist es für viele jedoch anzuerkennen, dass abwertende Denkmuster, die in weiten Teilen der Gesellschaft verankert sind, überhaupt erst die Legitimierung für diese Form von Gewalt bieten: Egal ob aggressive soziale Bewegungen und Parteien, gewalttätige Gruppen oder Terroristen – sie alle können sich auf das „Volk“ (mit seinen abwertenden Denkmustern) beziehen und ihre Taten damit rechtfertigen, wie der Soziologie Wilhelm Heitmeyer in seiner 2020 erschienenen Studie „Rechte Bedrohungsallianzen - Signaturen der Bedrohung II“ hervorhebt.
Anders ausgedrückt heißt das: Wir alle tragen rassistische und abwertende Denkmuster in uns. Um zu einer diskriminierungs-armen Gesellschaft zu kommen, gilt es, die eigenen Denk- und Verhaltensweisen kritisch zu hinterfragen. Dies ist für weiß sozialisierte Personen ein schwieriges und oft auch schmerzhaftes Unterfangen: Welche Vorteile habe ich im Alltag, zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Jobsuche? Welche Bilder habe ich im Kopf, wenn ich an Afrika denke? Und bin ich mir bewusst, welche Auswirkungen meine Sprache für bestimmte Personen(gruppen) hat?
Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, stellt einen wichtigen Schritt im antirassistischen Lernprozess dar. Mit Blick auf die Vielfalt in unserer Gesellschaft ist es damit allerdings nicht getan, denn Rassismus ist nur eine von vielen Diskriminierungskategorien: Religion, Geschlecht, Herkunft, psychische und körperliche Konstitution, sexuelle Orientierung, Alter, soziales Milieu – all diese Faktoren können Grund sein für Bevorteilung oder Benachteiligung.
Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen Mehrfachdiskriminierungen erfahren können. Dies ist der Fall, wenn Personen in zwei oder mehr Kategorien von möglichen Diskriminierungen betroffen sind, zum Beispiel Schwule mit Behinderung, Schwarze Frauen, transsexuelle muslimische Männer. In diesen Fällen können sich die Diskriminierungsformen beeinflussen und neue Formen von Diskriminierung entstehen.
Von Unternehmensbroschüren lächeln uns Menschen unterschiedlicher kultureller Herkünfte entgegen, und große Firmen feiern sexuelle Vielfalt – seit ein paar Jahren stehen die Schlagwörter Vielfalt und Diversität in der deutschen Unternehmens- und Medienlandschaft hoch im Kurs. So verheißungsvoll die Bilder sind, so wenig haben sie meist mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun. Um Vielfalt wirklich zu leben, braucht es mehr als schöne Bilder, es braucht ein offenes Ohr für die Lebensrealitäten benachteiligter Gruppen und den Willen, auch auf struktureller, auch auf institutioneller Ebene Veränderungen anzugehen.
Diese fordern an den Rand der Gesellschaft gedrängte – so genannte marginalisierte – Gruppen immer selbstbewusster ein. Von Diskriminierung Betroffene bilden Allianzen und verschaffen sich auch dank der sozialen Medien Gehör. Sie geben sich nicht länger zufrieden mit dem Platz, den ihnen die Privilegierten und Mächtigen in der Gesellschaft zuweisen. Betroffene und ihre Verbündeten schaffen sichere Räume für den Erfahrungsaustausch untereinander (so genannte Safe(r) Spaces) und bieten Empowerment-Workshops an.
Ich weiß warum ich schreibe und für wen
Kann euch nicht schützen,
ich kann euch bloß zeigen
Wir haben ‘ne Stimme,
wir müssen nicht schweigen [...]
Wir sind nie wieder, nie wieder leise
So heißt es in einem Song der afroamerikanisch-deutschen Sängerin Celina Bostic. Die Zeilen machen klar: Es muss sich etwas bewegen, und es wird sich etwas bewegen.
Der Integrationsforscher Aladin El-Mafaalani stellt in seinem 2018 erschienenen Buch „Das Integrationsparadox“ die These auf, gelungene Integration erhöhe das Konfliktpotenzial. Die Konflikte seien ein Zeichen dafür, dass zwei Seiten, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, nun miteinander sprechen.
Im Kontext des Themas Vielfalt geht es nicht nur um Integration, sondern auch um die Interessen von Menschen mit Behinderungen, Menschen anderer Religionen, sozial Benachteiligten oder der LGBTIAQ+-Community (siehe Glossar weiter unten). Das ist anstrengend, aber ein gutes Zeichen auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft, denn: Nur wo Konflikte ausgetragen werden, findet ein echter Aushandlungsprozess statt.
Diverse Fragen an eine diskriminierende Gesellschaft: Wie kann Vielfalt sichtbarer und die Gesellschaft dadurch gerechter werden? Das neue Saisonthema dreht sich um Diskriminierung und Privilegien, Empowerment und Allyship.
Nicht nur von Diskriminierung Betroffene kämpfen dafür, ihre Perspektiven sichtbar zu machen. Immer mehr Privilegierten und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ist es ein Anliegen, sich mit den Lebensrealitäten marginalisierter Gruppen ernsthaft auseinanderzusetzen und sich in einen vielfaltsbewussten Lernprozess zu begeben. Das bedeutet, sich aktiv mit den eigenen – rassistischen, sexistischen, homophoben, behindertenfeindlichen ... – Prägungen auseinanderzusetzen und die eigenen Privilegien zu hinterfragen. Wer es damit ernst meint, wer wirklich ein:e Verbündete:r – ein so genannter Ally – sein möchte, begibt sich damit auf einen lebenslangen Lernprozess. Verbündete leisten Aufklärungsarbeit, solidarisieren sich mit marginalisierten Gruppen und übernehmen Verantwortung.
Zugegeben: Das hört sich erstmal nach viel Arbeit an. Warum sollten Menschen, die von diversen Privilegien profitieren, sich darauf einlassen? Warum sollten sie Macht und Deutungshoheit abgeben? Die Antwort scheint zunächst banal: weil Vielfalt uns alle stärker macht.
In der Wirtschaft hat sich dies schon lange bestätigt: Heterogen besetzte Teams erzielen in der Regel bessere Ergebnisse als Teams, die mit Mitgliedern ähnlicher Biografien zusammengesetzt sind. Plakativ lässt sich sagen: Wo unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen, entsteht Kreativität und Innovation – und das steigert am Ende die Produktivität und damit den Gewinn.
Jenseits des marktwirtschaftlichen Nutzens kann der bewusste Umgang mit Diversität mehr Freiheit für alle bedeuten: Wenn zum Beispiel tradierte Rollenbilder überwunden, Tabus hinsichtlich psychischer und körperlicher Einschränkungen gebrochen und vielfältige Lebensrealitäten anerkannt werden, profitieren letztlich wir alle davon. Die Anti-Rassismus-Trainerin Tupoka Ogette ist überzeugt, dass unsere (rassistischen) Prägungen uns davon abhalten, die Menschen zu sein, die wir eigentlich sein wollen. Nämlich tolerant, weltoffen oder gerecht. Unsere Privilegien abzugeben, bedeutet anderen Recht zu verschaffen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, fällt es uns vielleicht leichter, uns aktiv für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft einzusetzen.
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Text: Magdalena Falkenhahn
Dieser Beitrag erschien im DA-Magazin Ausgabe 2-2022.
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Kennen Sie schon das Magazin der Domberg-Akademie? In Ausgabe 2 widmen wir uns aktuellen Fragestellungen zum Saisonthema "Was ist dein Privileg?" Außerdem teilen wir auf den Themenseiten spannende Berichte, Meinungen und Ausblicke unseres Bildungsteams und stellen Ihnen das aktuelle Programm der Akademie für den Frühling und Sommer vor.
Die Abkürzung LGBTIAQ+ soll Menschen aller sexuellen und geschlechtlichen Orientierung jenseits der heterosexuellen Norm einbeziehen. Die einzelnen Buchstaben bedeuten: