Die Initiative #OutInChurch verändert die Wahrnehmung und das Leben queerer Menschen in der Kirche. Es wird Zeit, sagt Dr. Claudia Pfrang
Schon im Vorfeld hatte ich von der ARD-Doku „Wie Gott uns schuf“ erfahren, und was sich dann an diesem Januartag 2022 ereignete, berührte mich tief. 125 queere Menschen hatten all ihren Mut zusammengenommen und wagten sich gemeinsam an die Öffentlichkeit. Es sind haupt- und ehrenamtlich Tätige, die seit Jahren in unterschiedlichen Bereichen der katholischen Kirche arbeiten: in der Pastoral, in sozialen und karitativen Einrichtungen, in den Gemeinden vor Ort, in der schulischen und universitären Bildung. Sie identifizieren sich unter anderem als lesbisch, schwul (=gay), bi, trans*, inter, asexuell, queer und plus (LGBTIAQ+). Die Aktion ging viral in den sozialen Medien. Dass die Ausstrahlung der Doku in die Primetime vorgezogen wurde, hat einmal mehr gezeigt, was geschehen kann, wenn Menschen sich zusammentun, nicht jede Person allein für das eigene Recht kämpfen muss.
All die Passionsgeschichten erschütterten mich. Ich blickte Menschen in die Augen, die unter Tränen von Diskriminierung und Ausgrenzung, Machtmissbrauch und Drohungen, von Angst und Verzweiflung, Depression und Suizidgedanken berichteten. Und das in einer Kirche, die von Freiheit spricht und ein Leben in Fülle für alle Menschen will. Mit dem Manifest #OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst fordern sie, endlich als LGBTIAQ+-Personen in der Kirche offen leben und arbeiten zu können sowie einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Handlungs- und Berufsfeldern der Kirche zu erhalten. Diffamierende und nicht zeitgemäße kirchliche Aussagen „zu Geschlechtlichkeit und Sexualität müssen auf Grundlage theologischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse revidiert werden“.
Es ist immer noch eine traurige Wahrheit: LGBTIAQ+-Personen werden ausgegrenzt und auf ihre sexuelle Orientierung oder ihre geschlechtliche Identität reduziert. „Die Heimaterfahrung in der Kirche ist für LGBTIQ+-Personen also niemals selbstverständlich, oft schwer errungen und verteidigt“, berichtet Jens Ehebrecht-Zumsande in dem Buch „Katholisch und Queer“ (S. 225).
Grund des Problems ist das einseitige Festhalten an der traditionellen katholischen Sexualmoral, die Sexualität auf den sexuellen Akt verkürzt, der nur dann gut ist, wenn er in einer Ehe vollzogen und grundsätzlich auf Fortpflanzung hin offen ist. Homosexuelle Handlungen verstoßen, so die Lehre, gegen die Schöpfungsordnung und gelten daher als sündhaft. Papst Franziskus betonte zwar 2016 im päpstlichen Schreiben Amoris Laetitia, dass jeder Mensch unabhängig von seiner sexuellen Orientierung in seiner Würde geachtet wird, aber eine Segnung homosexueller Paare wurde vom Vatikan im Februar 2021 abgelehnt.
Folgt man dem Katechismus, ist jeder Mensch entweder nur Mann oder nur Frau. Für alle anderen ist darin kein Platz – wie auch für die Erkenntnisse der Humanwissenschaften und die vielfältigen Lebensrealitäten. Durch die kirchliche Lehre werden sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität somit zum Ausgrenzungsmerkmal, LGBTIAQ+-Personen diskriminiert. Doch die bisherige Lehre stößt bei vielen Menschen auf Unverständnis und spielt schon lange in ihrem Leben keine Rolle mehr.
Eine Ethik gelingender Sexualität auf dem aktuellen Stand der Wissenschaften hingegen umfasst weit mehr, wie viele Theolog:innen betonen: Sie ist identitäts- und beziehungsstiftend, lebensspendend und lustvoll, sie kann zu einer Erfahrung von Transzendenz führen. Diese Dimensionen einzulösen, ist eine Herausforderung für jede Beziehung. Andererseits gilt es endlich zu akzeptieren, was Bischof Franz-Josef Overbeck treffend zusammenfasst: „Wie Menschen zu leben haben, lässt sich nicht mehr allgemein autoritativ verordnen, ohne das Gottesgeschenk der Autonomie mit Füßen zu treten.“ (S. 215)
Die Aufmerksamkeit für sexuelle Diversität, die weltweit und transkulturell zu beobachten ist, gehört als Zeichen der Zeit für die Kirche zu den aktuellen Herausforderungen. Sicher: Das kommt einer Selbst- und Kurskorrektur des kirchlichen Lehramtes gleich. Aber das kann auch als Stärke gelesen werden, als das, was Kirche sein möchte, ein Zeichen des Heils im Hier und Heute. Eine Kirche, die damit ernst macht, sich für die Würde der Menschen unabhängig von sexueller Orientierung und Geschlecht einzusetzen. Kirche ist nicht nur eine lehrende, sondern auch eine lernende Kirche, eine ecclesia semper reformanda.
Im Podcast „Der Himmel bleibt wolkig“ kommen Menschen zu Wort, die sich trotz ihrer negativen Erfahrungen mit der Institution Kirche mutig für positive Veränderungen einsetzen. Was alle eint: Der Glaube gibt ihnen Halt, Hoffnung und Kraft – und liefert Gründe, warum es sich zu kämpfen lohnt.
#OutInChurch macht überdeutlich: Kirche ist für queere Menschen ein Raum, in dem sie häufig diskriminiert und ausgeschlossen sind, in dem sie verletzt wurden und immer noch werden, in dem sie nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit willkommen sind wie heterosexuelle Christ:innen.
„Offensichtliche Macht wird ausgeübt“, so hält es der Grundtext des synodalen Weges "Leben in gelingenden Beziehungen" fest, „wenn von kirchlichen Dienstnehmer:innen die Einhaltung der Sexualmoral als Lackmustest für ihre Loyalität zum kirchlichen Dienstgeber gewichtet und ihre gravierende Verletzung mit schweren Sanktionen bis hin zur Kündigung des Dienstverhältnisses geahndet wird. Solche Machtausübung wird von vielen Gläubigen zunehmend als ungerechtfertigt, mehr noch, als Verdunkelung der Botschaft Jesu selbst abgelehnt. Die Ablehnung verstärkt sich, wenn kirchliche Dienstgeber zwar um Abweichungen wissen, sie stillschweigend dulden, im Falle dienstlicher Belange oder Konflikte dann aber als Druckmittel nutzen, um sich Dienstnehmer:innen gefügig zu machen.“
Der Forderung nach der Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts hat #OutInChurch neuen Nachdruck verliehen. Inzwischen liegen fast 119.000 Unterschriften dafür vor, und die letzte Synodalversammlung hat sich mit über 90 Prozent der Stimmen für eine Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts ausgesprochen.
Dies ist eine erste Voraussetzung dafür, dass queere Menschen die Kirche als einen Safe(r) Space erfahren. Einen Ort, der sie vor Diskriminierung und Ausgrenzung schützt, wo sie sich mit anderen über ihren eigenen Glauben und ihre Identität austauschen können, an dem Gläubige an ihrer Seite stehen und ihnen zeigen: Du bist gut, so, wie du bist.
Das Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre vom 22. Februar 2021 „über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts“ gab Antwort auf die Frage: Hat die Kirche die Vollmacht, Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts zu segnen? Die von Rom vorgebrachte Argumentation: Homosexuelle Lebensgemeinschaften entsprechen nicht dem Plan Gottes von Ehe und Familie, also ist keine Segnung möglich.
Das Nein hat Unverständnis, Widerstand bis zu pastoralem Ungehorsam ausgelöst – auch bei deutschen Bischöfen, die sich bis heute offen und klar dafür aussprechen, dass sie den Segen nicht verweigern würden. Die Initiative #liebegewinnt entstand, und viele Gemeinden luden daraufhin zu Segensfeiern ein. Sie wurden damit zu einem Ort christlicher Praxis, die sich öffentlich gegen jede Form von Diskriminierung ausspricht, die Verwundungen der Menschen wahr- und ernstnimmt, die einen heilsamen Raum bietet für neue Erfahrungen.
Wenn jede:r als Ebenbild Gottes die gleiche Würde hat, von Gott mit Leib und Seele geschaffen, wozu auch die Sexualität als wichtiger Teil der Identität gehört: Wie kann es sein, dass wir als Kirche nicht den Segen – im Sinne von „Du bist von Gott gewollt und geliebt“ – zusprechen können? Wenn diverse sexuelle Orientierungen, wie die Naturwissenschaften zeigen, „als ‚Normvarianten‘ menschlicher Geschlechtlichkeit beschrieben werden (…), bedeutet das in theologischer Sprache nichts anderes, als dass es sich um ‚Schöpfungsvarianten‘ handelt: um das natürlich gegebene, vom Schöpfer geschenkte je eigene So-Sein eines Menschen. Und was Gott geschaffen hat, ist gut. Sehr gut sogar“, erläutert die Dogmatikerin Julia Knop (S. 264).
Reinhard Kardinal Marx forderte beim 20-jährigen Jubiläum des Queer-Gottesdienstes in München am 13. März 2022, die Kirche müsse inklusiver werden. Inklusion bedeutet auf der individuellen Ebene, dass jede:r einen Anspruch auf Selbstbestimmung, Entfaltung und Förderung hat, sowie auf sozialer und gesellschaftlicher Ebene, die Diversität und Vielfalt als Voraussetzung des Zusammenlebens anzuerkennen. Der Kardinal verlangt damit, die Perspektive zu wechseln: weg von einer sexual- und geschlechternormierenden Lehre hin zur Anerkennung der Vielfalt an Lebensformen, in denen, wie Marx ebenfalls betonte, die Liebe (und nicht nur verkürzt die Sexualität) im Mittelpunkt steht.
Diverse Fragen an eine diskriminierende Gesellschaft: Wie kann Vielfalt sichtbarer und die Gesellschaft dadurch gerechter werden? Das neue Saisonthema dreht sich um Diskriminierung und Privilegien, Empowerment und Allyship.
Welcher Schritte es auf dem Weg zu einer vielfaltssensiblen und queer-freundlichen Gemeinde konkret bedarf, wurde bei einer Veranstaltung der Domberg-Akademie in der Reihe „Queere Menschen – queere Kirche“ formuliert:
LGBTIAQ+-Katholik:innen fordern, so #OutInChurch-Mitinitiator Jens Ehebrecht-Zumsande, „das bestehende System zur Veränderung und damit zum Wachstum heraus. Hierbei kann die Kirche viel gewinnen: ein Mehr an Gerechtigkeit, Weite und Glaubwürdigkeit und darin eine noch größere Nähe zum Evangelium und zum Reich Gottes“ (S. 231).
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Text: Dr. Claudia Pfrang
Dieser Beitrag erschien im DA-Magazin Ausgabe 2-2022.
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Alle genannten Zitate sind entnommen aus: Mirjam Gräve/Hendrik Johannemann/ Mara Klein (Hg.): KATHOLISCH UND QUEER. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Bonifatius Verlag, Paderborn 2021, EUR 22,00
Im Aufmacherbild von oben links nach unten rechts:
Sie und viele weitere queere Menschen können Sie mit ihren Testimonials auf der Website www.outinchurch.de kennenlernen
Bilder Copyright: #OutInChurch | Stefan Weigenad